Prolog
Ein Kuss …
Es war nur ein Kuss von dir nötig, um mich in deinen Bann zu ziehen. Ich erinnere mich genau daran, wie du geschmeckt hast, wie du gerochen hast, spürte deinen Atem auf meiner Haut, hörte dein leises Keuchen, als sich unsere Lippen berührten. Du beherrschst jeden meiner Gedanken, wenn ich morgens aufstehe, bis ich abends ins Bett gehe, und in der Nacht träume ich von dir. Von deinen Händen, die mich überall berühren, deinen Lippen, die von mir kosten.
Ich will dich so unbedingt – brauche dich, wie die Luft zum Atmen.
Unruhig wälze ich mich im Bett umher, weil der Drang, dich zu besitzen, mit jedem Tag, der vergeht, unerträglicher wird. Die Gedanken an dich trösten mich nicht – helfen nicht dabei, dich weniger zu vermissen.
Seufzend erhebe ich mich aus meinem Bett und tapse auf nackten Füßen ins Wohnzimmer zu meinem Allerheiligsten – meinem Bücherregal. Liebevoll streiche ich über den Einband eines deiner Bücher und stelle mir vor, es wäre deine Haut. Vorsichtig ziehe ich mein Lieblingsbuch aus dem Regal und schlage es auf. Mit zitternden Fingern fahre ich über deine Signatur. Du hast es für mich signiert – nur für mich, nachdem ich es im Internet bestellt habe. Meinen Namen hast du in deiner wunderschön geschwungenen Handschrift geschrieben und sogar ein Herz hast du daneben gezeichnet, so als wüsstest du schon, dass du mein bist. So als könntest du bereits spüren, dass wir füreinander bestimmt sind. So als hättest du jeden der Küsse, die du in deinen Büchern beschreibst, wirklich auf meinen Lippen verteilt.
Du weißt es und du wartest darauf, dass du all die Fantasien, über die geschrieben hast, mit mir gemeinsam ausleben kannst. Und das kannst du – das wirst du. Du brauchst nicht mehr zu warten. Ich habe verstanden, was du mir sagen willst, und ich werde kommen, um es dir zu geben. Ganz genauso, wie du es brauchst – genauso wie du es willst. Alles, was ich tue, tue ich nur für dich. Ich atme für dich und lebe für dich, seit deine Lippen meine zum ersten Mal berührten, mit jeder Zeile, die ich von dir gelesen habe. Seit ich dich durch die Seiten gespürt habe - deine Liebe und deine Nähe gefühlt habe.
Ich stelle das Buch zurück in mein Bücherregal und berühre meine Lippen in Gedanken an deine. Nicht mehr lange und ich werde dich nicht mehr nur durch die Seiten fühlen können. Deine Haut wird mir gehören, deine Liebe wird mir gehören, deine Nähe wird mir gehören. Deine Lippen, deine Küsse, jeder deiner Atemzüge, deine Leidenschaft. Jedes winzige bisschen von dir wird mir gehören. Du wirst mein sein – für immer.
Kapitel Eins
Daran werde ich mich nie gewöhnen.
Seufzend lasse ich meinen Kopf auf die Tischplatte sinken und stöhne. Aus dem Augenwinkel kann ich den übergroßen Bücherstapel neben mir entdecken und kneife die Lider fest zu. Jeden Tag nehme ich mir Zeit, die Bücher persönlich zu signieren und meine Leser mit ihren Namen anzusprechen. Auch die Fanpost beantworte ich persönlich. Viele erfolgreiche Personen stellen jemanden dafür ein und haben bedruckte Autogrammkarten. Aber ich nicht. Es war mir immer wichtig, auf dem Teppich zu bleiben. Allerdings hatte ich mit so einem Erfolg auch nicht gerechnet.
Ich wollte tun, was ich schon immer gerne getan habe: Schreiben. Dass eines Tages jeder meinen Namen kennen würde, habe ich nicht erwartet. Na ja, oder mein Pseudonym.
Nur die wenigsten Menschen aus meinem näheren Umfeld wissen, dass ich ein erfolgreicher Autor bin. Von meinen Lesern kennt niemand mein Gesicht, auch nicht mein Alter oder mein Geschlecht.
Es wird viel darüber gemutmaßt, wer hinter dem Namen Jenison Rack steckt. Jen, wie der Name liebevoll abgekürzt wird, kann alles und jeder sein: von einem vierzehnjährigen Mädchen bis zu einem einsamen Rentner. Wobei ich hoffe, dass ein vierzehnjähriges Mädchen mit dem Begriff Rack nichts anfangen kann. Ich habe mein Pseudonym in Anlehnung an ein Sicherheitskonzept im Bereich BDSM ausgewählt, welches auf die Eigenverantwortung des Einzelnen setzt und Jenison ist der Name der Geburtsstadt meiner Mutter.
Wenn man vom Teufel spricht. Mein Handy klingelt wie jeden Tag, wenn meine Mutter mich um diese Zeit anruft.
»Eli«, ruft sie laut durch das Telefon. Eigentlich bräuchten wir nicht zu telefonieren, weil sie so laut schreit, dass ich sie auch zwei Bundesstaaten weiter hören könnte. Emily Cohan ist eine wunderschöne Frau, die laut und wild ist. Das habe ich an ihr schon immer gemocht.
»Hey Mum.«
»Wie geht es dir?«, fragt sie sorgenvoll, wie jeden Tag. Aber ich mache ihr keine Vorwürfe. Ich bin ein Einzelkind und mein Vater starb als ich noch klein war. Es gab immer nur uns beide, bis ich vor einem Jahr ausgezogen bin.
»Mir geht es gut und dir?«, frage ich, dabei kenne ich die Antwort längst. Meine Mutter ist einsam, seit ich gegangen bin und das verstehe ich auch, aber ich habe so lange bei ihr gewohnt, wie es ging.
»Auch«, lügt sie, wie immer, um mich nicht aufzuwühlen.
Mit meinem Erfolg kam auch viel Geld und es erschien mir komisch, weiter bei meiner Mutter zu leben, und so zog ich zunächst in ein Apartment nicht weit von ihr entfernt. Irgendwann wollte ich die Kleinstadt Clarion Park, Pennsylvania nahe der Grenze zu New Jersey verlassen, in der ich aufgewachsen bin. Ich zog nach North Everett in der Nähe von Boston, Massachusetts. Hier befindet sich der Hauptsitz meines Verlegers Callahan Publishing. Der Verlag ist einer der Big Six – die sechs Größen, die den Buchmarkt dominieren. Ursprünglich waren es Big Five. Aber Callahan Publishing hat sich ähnlich, wie ich einen Platz an der Spitze verdient.
»Sehen wir uns am Wochenende zum Essen?«, frage ich, weil ich so oft es geht, nach Hause fahre.
»Ja, natürlich, mein Schatz. Ich freue mich.«
Meine Mutter weiß als eine der wenigen, was ihr Sohn beruflich macht, allerdings bestehe ich darauf, dass sie meine Bücher nicht liest. Einiges darin würde sie ganz schön durcheinanderbringen.
»Ich mich auch, Mum«, gebe ich von mir und beende das Gespräch.
Seufzend mache ich mich wieder daran, die Bücher zu signieren, die bestellt wurden. Der Stapel wird und wird nicht kleiner, egal, wie oft ich meine Unterschrift in einem Buch platziere.
Ich werde schon wieder unterbrochen, als meine Agentin anruft.
»God of Smut«, begrüßt sie mich und lacht.
Ich rolle mit den Augen, über den Spitznamen, den mir meine Fangemeinde gegeben hat. Teilweise, weil mir Smut als Bezeichnung für etwas Schönes, wie Sex, nicht gefällt und auch weil ich finde, dass meine Fans übertreiben. Ich werde in den Himmel gelobt, weil ich einen bildhaften und lebensechten Schreibstil habe. Die Menschen behaupten, sie würden alles, was ich schreibe, am eigenen Leib spüren. Ein Fan hat mich mal gefragt, ob ich Feenstaub über die Seiten streue, weil sich meine Bücher wie echter Körperkontakt anfühlen.
»Bist du noch da?«, fragt Kira.
»Ja, was gibt’s?«
Meine Agentin druckst etwas herum, ehe sie mit der Sprache herausrückt. »Wie stehen die Chancen auf ein Interview?«
»Keine Chance«, gebe ich von mir. »Ich habe bereits schriftlich einige Fragen beantwortet. Zu mehr Informationen bin ich nicht bereit.«
»Schämst du dich etwa?« Ich höre den bissigen Unterton heraus und werde sauer.
Mir war klar, dass ich jemanden brauchen würde, der meine Angelegenheiten für mich regelt und habe mich einfach an eine Agentur gewandt. Dass ich ein Miststück wie Kira bekommen würde, habe ich nicht erwartet. Sie ist nur auf ihren eigenen Vorteil aus und schert sich einen Dreck darum, was ich will. Kira will nur Profit machen und das, was ich ihr einbringe, ist ihr noch nicht genug.
»Klar«, schnaubt sie verächtlich, weil ich nicht geantwortet habe. »Ihr Typen wollt immer eine Regenbogenparade, aber wenn es hart auf hart kommt, versteckt ihr euch, wie kleine Mädchen.«
»Ja … ich denke, damit ist unsere Zusammenarbeit beendet.« Ich atme tief durch, um nicht laut zu werden, obwohl ich gerade alles andere lieber tun würde. Aber bei einem derart beleidigenden Verhalten ziehe ich die Grenze. Zumal sie meine sexuelle Orientierung nicht mal kennt. Wie selbstverständlich geht sie davon aus, dass ich in meinen Büchern über meine persönlichen Erfahrungen schreibe. Was auch teilweise stimmt, aber das weiß sie nicht.
»Du hast einen Vertrag unterschrieben!« Kira wird laut.
»Dann verklag mich doch«, entgegne ich und beende das Gespräch.
Ich schaue auf den Buchstapel und stöhne erschöpft. Es scheint, ich brauche doch Hilfe, bei der Bewältigung meiner Aufgaben. Ich muss mir einen neuen Agenten suchen, einen Assistenten und wohl auch einen Anwalt. So wie ich Kira kenne, wird sie mich nicht einfach so ziehen lassen.
Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, dass es bereits weit nach Mittag ist und ich zum Essen mit meiner besten Freundin verabredet war. Schnell schnappe ich mir meine Sachen und mache mich auf den Weg zu dem Restaurant. Glücklicherweise ist es gleich um die Ecke, weil meine schlaue Freundin bereits vorgesorgt hat. Trotz meines Sprints komme ich eine halbe Stunde zu spät.
Verschwitzt stolpere ich durch die Tür des Restaurants und Anita, genannt Annie, grinst mich breit an. In ihrer Hand hat sie einen Cocktail mit Schirmchen und tippt mit ihren rot lackierten Fingernägeln gegen das Glas.
»Tut mir …«, beginne ich, als ich nass geschwitzt bei ihr ankomme. Mein Shirt klebt mir am Rücken und ich keuche.
Annie unterbricht mich. »Spar's dir. Ich habe schon für dich bestellt.« Sie zwinkert mir zu.
»Du bist die Beste der Besten, das weißt du, oder?«, frage ich und lasse mich auf dem Stuhl ihr gegenüber fallen.
Sie winkt ab. »Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß.«
»Ich habe Kira entlassen«, berichte ich und Anita strahlt. »Gut gemacht, Schatz. Ich bin stolz auf dich.«
»Aber jetzt brauche ich dringend Hilfe.«
Wir werden unterbrochen, als der Kellner kommt und einen riesigen Bacon-Cheeseburger mit einem Berg Süßkartoffelpommes und Trüffelmayonnaise vor mir abstellt. »Ich liebe dich.«
»Ich dich auch«, flüstert Annie, obwohl sie weiß, dass ich mit dem Essen gesprochen habe.
Ich habe nicht viele Hobbys, aber neben dem Schreiben ist Essen definitiv eins meiner liebsten Hobbys. Fettig, würzig, köstlich, ist genau mein Ding, obwohl das nicht gesund für mich ist. Aber ich habe einen guten Stoffwechsel und gehe auch ganz gerne joggen, sodass ich mir ein solches Essen leisten kann.
Bevor ich Autor geworden bin, habe ich noch sehr viel mehr Sport gemacht. Ich habe an der University of Pennsylvania studiert. Die UPenn ist Mitglied der Ivy League – die besten Sportmannschaften der alten acht Eliteuniversitäten.
Heute sitze ich überwiegend.
»Wo steckst du das nur hin?«, fragt Annie. »Ich habe schon zwanzig Pfund mehr, nur vom Zuschauen.«
»Du bist wunderschön«, murmele ich mit vollem Mund und rolle genießerisch mit den Augen, weil der Burger so verdammt köstlich ist.
Ich schlucke einen großen Bissen herunter und schaue meine beste Freundin an, die in ihrem immer gleichen Salat stochert und etwas hin und her schiebt, was sich Falafelbällchen nennt. Ich sterbe lieber, als dass ich so etwas essen muss, nur um gesund zu leben und gut auszusehen.
»Also, was sagst du?«, will ich wissen.
Fragend sieht Annie mich mit ihren großen, grünen Augen an, bevor ihr ein Licht aufgeht. »Nein, Eli!«
Ich setze meinen Hundeblick auf, der immer zieht. »Bitte, Annie.«
»Du bist unwiderstehlich und das weißt du auch genau, du Mistkerl«, brummt sie und schiebt sich einen von den runden Dingern in den Mund.
Ich grinse meine beste Freundin an und beiße herzhaft in meinen Burger.
»Mehr kauen und weniger schlingen«, tadelt mich Annie, nachdem ich den kompletten Burger in wenigen Minuten verputzt habe und mich über die Süßkartoffelpommes hermache.
»Beeil dich.« Meine beste Freundin verlangt nach der Rechnung und bezahlt sie, bevor sie mich am Arm hinter sich her aus dem Restaurant zieht.
Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zu meiner Wohnung.
Kopfschüttelnd betrachtet Annie das Chaos. »Ich helfe dir, so gut es geht. Aber ich habe auch einen Job.«
Sie ist im Mediendesign tätig. Ich habe sie über Kira kennengelernt, die meinen Onlineauftritten einen komplett neuen Touch geben wollte. Annie erkannte sofort, dass ich mich damit nicht wohlfühle. Sie hat mich verstanden und wir freundeten uns an. Was gut tat, da ich neu in der Stadt noch kaum jemanden kannte. Sie führte mich in ihren Freundeskreis ein und inzwischen habe ich das Gefühl angekommen zu sein.
Kapitel Zwei
Der Typ ist einfach der Hammer.« Annie schüttelt lachend den Kopf und starrt auf den Bildschirm. Ich schaue ihr über die Schulter und grinse.
»Marlo_DoD«, liest sie seinen Profilnamen vor. Zumindest denke ich, dass es ein Mann ist. Oder vielleicht hoffe ich auch nur, dass mich nicht nur Frauen verehren und ich auch männliche Fans habe. Obwohl ich nie etwas mit einem Fan anfangen würde.
»Wer ist das?«, will Annie wissen und sieht sich prüfend seine Beträge in den sozialen Medien an.
Ich zucke mit den Schultern und sie runzelt die Stirn. »Du weißt nicht, wer dein größter Fan ist? Die meisten deiner Verkäufe hast du ihm zu verdanken, weil er seine Reichweite nutzt, täglich Werbung für deine Bücher zu machen und das völlig unentgeltlich.«
»Ich bedanke mich immer persönlich bei ihm und er bedankt sich daraufhin für meine Bücher«, entgegne ich.
»Mehr nicht?«, harkt meine beste Freundin neugierig nach.
»Small Talk«, behaupte ich, obwohl es sich nicht so anfühlt.
»Und weiter?« Annie sieht mich abwartend an.
Ich antworte nicht und weiche ihrem Blick aus.
»Du hast Angst …«, stellt sie fest und mustert mich misstrauisch. »Wovor hast du denn Angst?«
»Ich habe keine Angst«, lüge ich.
»So schüchtern bist du nur, wenn du auf jemanden stehst?« Annie überlegt einen Moment, bevor sie die Augen aufreißt. »Elijah Cohan! Bist du etwa verknallt?«
Schnell schüttele ich den Kopf. Ich bin doch nicht in jemanden verknallt, den ich noch nie gesehen habe und von dem ich nicht mal weiß, ob es ein Mann ist. Davon mal abgesehen, fange ich doch nichts mit einem Fan an – ganz bestimmt nicht. Niemals …
Wem will ich eigentlich etwas vormachen?
»Was hast du ihm erzählt?«, fragt Annie grinsend und schaut wieder auf den Laptop.
»Nichts«, sage ich. »Er fragt nichts Persönliches und ich antworte nichts Persönliches. Hauptsächlich reden wir über Marlo und Keno.«
Marlo und Keno sind die Protagonisten aus meiner Reihe Desire of Destruction. Die Trilogie hat es auf die Bestsellerlisten geschafft, und das verdanke ich zum größten Teil ihm. Als ich noch völlig unbekannt war, hat er jedes meiner Bücher gelesen und darüber in den sozialen Medien berichtet. Er war anfangs, als ich meine ersten Schritte im Selfpublishing versucht habe, noch ähnlich unbekannt wie ich. Wir folgten uns gegenseitig, als wir gerade hundert Follower hatten. Gemeinsam sind wir gewachsen, wobei er inzwischen viel erfolgreicher ist als ich. Kürzlich hat er fünfhunderttausend Follower erreicht. Er ist zu dem führenden Ansprechpartner geworden, wenn es um Bücher im Bereich Gay Romance geht. Marlo hat sie alle gelesen, kennt alle Sub-Genres und gibt ehrliche Empfehlungen ab, die mit so viel Leidenschaft und Gefühl geschrieben sind, dass auch ich bei ihm nachschaue, was ich als Nächstes lesen will. Er schafft es außerdem, Lust auf ein Buch zu machen, ohne dass er den Inhalt spoilert. Und er liebt jedes meiner Bücher. Nur ein anderer Autor hat neben mir je die volle Punktzahl bekommen. Die Dilogie Bound by Obsession habe ich auch geliebt. Sie war ein Grund, wieso ich mit dem Schreiben begonnen habe. Leider hat der Autor, C.M. Veil sich aus dem Geschäft zurückgezogen. Aber etwas Gutes hat es auch: mit ihm hätte ich nie konkurrieren können.
So bin ich Marlos einziger Lieblingsautor – der Einzige, der noch schreibt. Die Art, wie er meine Bücher rezensiert, zeigt, dass er sie genauso sieht, wie ich sie gemeint habe. Viele Leser haben versucht, meinen Stil und den Inhalt zu analysieren, aber niemand versteht mich so wie Marlo. Er liest zwischen den Zeilen und erkennt Dinge, die ich selbst nicht einmal wusste.
Ich sehe, wie Annie etwas auf meinem Laptop tippt, dann dreht sie sich lachend zu mir um. »Dein Suchverlauf zeigt, dass du ihn gegoogelt hast.«
Die Hitze schießt mir in die Wangen und ich versuche, mich herauszureden. »Doch nur, weil er meine Bücher mag.«
»Klar.« Annie schüttelt den Kopf und ich schaue dabei zu, wie sie den Chat mit Marlo öffnet und liest.
»Von Privatsphäre hast du noch nichts gehört, oder?«, herrsche ich sie an.
»Ich denke, das ist beruflich?«, fragt sie und hat mich ertappt.
Plötzlich sehe ich, wie sie etwas tippt. »Was machst du da?« Ich reiße ihr meinen Laptop weg.
»Ihm schreiben, was denkst du denn?« Annie sieht mich an, als wäre ich nicht ganz dicht. »Du bist erfolgreich, witzig, liebevoll und siehst verdammt gut aus. Wenn du ihn willst, worauf wartest du dann noch?«
»Er könnte ein kleines Mädchen sein, oder ein Rentner«, gebe ich von mir.
»Genau wie du«, weist meine beste Freundin mich zurecht. »Er weiß auch nicht, wer du bist. Ihr werdet nie herausfinden, was das ist, wenn ihr nicht mal darüber sprecht.«
Wie stellt sie sich das vor? Ich frage meinen größten Fan, ob er nicht nur auf meine Bücher steht, sondern vielleicht auch auf mich? Und wenn es so ist, frage ich ihn, ob er ein Mann ist und wie ich auf Männer steht? Das klingt selbst in meinen Gedanken verrückt.
»Frag ihn etwas, das nur Männer machen und warte ab, was er darauf entgegnet«, schlägt Annie vor, während ich den Laptop noch an meine Brust gedrückt halte.
»Was denn? Ob er im Stehen pinkelt?«
Annie kichert. »Vielleicht etwas weniger Direktes.«
Seufzend lasse ich mich neben meiner besten Freundin nieder und stelle den Laptop ab. Sie hat recht, was habe ich denn zu verlieren? Ich tippe eine Nachricht.
Ich: Hey Marlo. Wie geht es dir?
Annie sieht mich an, als wäre ich verrückt. »Im Ernst? Wie geht es dir?«
Ich zucke mit den Schultern.
Marlo: JR, wie schön von dir zu hören. Gut, danke und dir?
JR, so nennt Marlo mich als einziger und ein Kribbeln geht durch meinen Bauch. Was stimmt denn nicht mit mir?
Ich: Auch … ich wollte dich etwas fragen.
Wie gebannt starren Annie und ich auf den Laptop und ich habe das Gefühl nicht atmen zu können.
Marlo: Schieß los …
»Das ist ein Mann!«, jubelt Annie. »Keine Frau würde so etwas schreiben.«
Ich würde dich gerne kennenlernen. Hast du Lust auf ein Treffen? – Das sollte ich schreiben, stattdessen antworte ich:
Ich: Nimmst du Rezensionsexemplare an?
»Bist du bescheuert?« Annie starrt mich entgeistert an.
Marlo: Fuck! Ist dein neues Buch draußen? Das muss mir entfallen sein … verdammt, verdammt, verdammt!
Annie lacht und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück. »Er ist wirklich süß.«
Schnell antworte ich Marlo.
Ich: Ich frage für einen befreundeten Autor.
Die Antwort kommt prompt.
Marlo: Schick mir den Namen und ich kaufe es.
Ich habe mit dieser Antwort gerechnet. Marlo hat noch nie ein Rezensionsexemplar angenommen. Er ist völlig unabhängig und unterstützt die Autoren lieber mit dem Kauf der Bücher. Allerdings nimmt er gerne ein signiertes Exemplar von mir, aber auch das kauft er, wie alle anderen, in meinem Onlineshop.
Ich: Danke
Marlo: Wieso habe ich das Gefühl, dass du etwas anderes fragen wolltest?
Schnell klappe ich meinen Laptop zu und meine Atmung beschleunigt sich.
»Er ist klug.« Annie nickt anerkennend.
Als hätte ich das nicht gewusst. Ich schaue mir jeden seiner Reels und Beiträge an und er ist ein sehr intelligenter Mensch, soviel weiß ich über ihn. Er beantwortet alle Kommentare persönlich und ist immer nett und hilfsbereit. Marlos Posts haben einen Wiedererkennungswert, was darauf schließen lässt, dass er weiß, was er tut und das schon von Anfang an, als ich noch keine Ahnung hatte, wie das alles funktioniert. Sein Handeln weist außerdem eine gewisse Regelmäßigkeit auf. Er postet am frühen Vormittag, egal zu welchem Wochentag. Abends ist er nie zu erreichen, dafür aber tagsüber. Daraus schließe ich, dass er entweder geregelte Arbeitszeiten hat, diese aber überwiegend am Abend stattfinden, oder im Homeoffice arbeitet. Sonst konnte ich kaum etwas über ihn herausfinden. Und das werde ich wohl auch nicht mehr, wenn ich mich weiter wie ein Feigling aufführe.
Seufzend klappe ich den Laptop wieder auf und atme einmal tief durch.
Ich: Bin ich verrückt, oder spürst du es auch?
Marlo: Du bist nicht verrückt …
Neugierig? Hier geht es zum Buch