Leseprobe zum Buch: Contrasting Silhouetts

Ursprünglich mal 'Schattenkönige/Bienenkönigin'

Prolog

Ich liege bäuchlings auf der Matte und keuche. Schnell drehe ich mich weg, bevor das Messer meine Haut berührt.

„Das war knapp.“ Manu grinst auf mich hinunter, das Messer immer noch in der Hand.

„Trotzdem daneben.“ Mit dem Bein ziehe ich ihm die Füße weg und er landet auf seinem Hintern. Von dem Sturz abgelenkt, entwende ich ihm das Messer und drücke es ihm an die Kehle. Ich knie auf seiner Brust und halte ihn mit einer Hand seitlich an seinem Hals fest. Mit dem Daumen kann ich seinen Puls rasen fühlen.

Ich beuge mich zu ihm hinunter. „Du hast verloren.“

Manu versucht sich zu befreien und zuckt zusammen, als Blut aus dem Schnitt aus seinem Hals rinnt. Ich spüre seinen Schmerz, als wäre es mein eigener.

„Was macht ihr da?“ Ich höre Adriens Stimme hinter mir, drehe mich aber nicht zu ihm um. „Wir warten auf euch.“

Manu grinst boshaft zu mir hoch und ich lasse ihn los. Wortlos stehe ich auf und gehe an Adrien vorbei ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

Er ruft mir hinterher, als ich in die Umkleidekabine gehe, aber ich ignoriere ihn.

„Eiskalt.“ Manu steht vor dem Spiegel und reinigt den Schnitt an seinem Hals, wobei er mir von Zeit zu Zeit boshafte Blicke zuwirft, während ich unter der Dusche stehe.

„Das ist ein Kratzer, mehr nicht“, tadele ich ihn und ziehe mich an. „Kein Grund zu heulen.“

Manu ist schon immer ein schlechter Verlierer gewesen, wobei ich ihn heute zum ersten Mal besiegt habe. Aber er konnte es schon nicht leiden, bei Brettspielen zu verlieren.

Die Tür geht auf und Adrien kommt rein. „Wie lange müssen wir noch auf euch warten?“

„Äh… Hallo?“ Manu stellt sich schützend vor mich. „Elie ist nicht angezogen. Sieh gefälligst woanders hin.“

Adrien schüttelt den Kopf. „Ich habe ihre Windeln gewechselt, als sie klein war… Deine im übrigen auch.“

Ich winke ab. „Mir egal.“

Soll er doch zusehen. Ich habe andere Sorgen, als mich für meinen Körper zu schämen, wie es viele Mädchen in meinem Alter tun, die ein vermeintlich normales Leben führen.

Ein normales Leben…

Diesen Luxus habe ich mir nie leisten können. Wir beide nicht. Ich werfe meinem Bruder einen Blick zu, der immer noch schützen vor mir steht, wie er immer schon schützend vor mir stand, so als wäre ich seine kleine Schwester. Dabei bin ich genau zwei Minuten Älter als er.

Ich schlüpfe in meine Shorts und ziehe mir ein Shirt über. Barfuß und mit nassem Haar dränge ich mich an meinem Bruder vorbei und folge Adrien, der kurz davor ist, die Geduld zu verlieren.

Als ich zusammen mit Manu in den Konferenzraum komme, erheben sich die dort wartenden Männer und sehen uns an, als wären wir Zootiere.

Das habe ich schon immer gehasst. Zeit unseres Lebens wurden mein Bruder und ich angeschaut, als wären wir ein Weltwunder.

Irgendwie sind wir das ja auch…

Manu und ich sind eineiige Zwillinge und sehen identisch aus, mit dem kleinen Unterschied, dass Manu ein Junge ist und ich ein Mädchen. Für den Rest der Welt sind wir deshalb selten und besonders, wie Ausstellungsstücke, aber für uns hat dieser Unterschied nie eine Rolle gespielt, weil es diesen Unterschied nie zwischen uns gab. Bis vor sieben Jahren war ich wie Manu. Wir sind verbunden und spüren das Fehlen des Anderen, wie Phantomschmerzen bei einem amputierten Arm.

„Ja, das war dann lange genug“, sage ich in die Runde. „Sie können aufhören uns anzustarren.“

Ich setze mich an den Konferenztisch und lege die Füße auf den Tisch.

Adrien schüttelt den Kopf. „Entschuldigt meine Nichte…“

Ich hasse es, dass mein Onkel sich für mich entschuldigt. Immerhin haben wir es ihm zu verdanken, dass wir in sozialer Isolation leben.

Er deutet auf mich und danach auf meinen Bruder. „Das sind Estelle und Emmanuel Furnier.“

Einer der Männer die mir gegenüber stehen meldet sich zu Wort. „Du… Wie… Wo hast du sie gefunden? Wir dachten…“

Der Mann braucht seinen Satz nicht zu Ende führen. Niemand weiß, dass wir am Leben sind. Für den Rest der Welt sind wir Manu und Elie Gerard. Diese Spitznamen hat unsere Mutter uns als Kinder gegeben sie fand offenbar, dass es geeignete Decknamen sind, als sie uns in Sicherheit gebracht hat.

Damals als wir fünf waren…

Meine Eltern versprachen uns abzuholen, sobald es sicher ist, aber sie kamen nie wieder.

Es gab nur mich und meinen Bruder, meinen Teil meiner Seele, der außerhalb meines Körpers umherwandert. Ich muss Manu nicht ansehen, um zu wissen, dass er angespannt ist und er weiß genau, dass ich wütend bin, wie ich immer schon wütend war, wenn die Schaulustigen uns anstarren müssen.

Verwirrt blickt der Mann in die Runde, als niemand antwortet. Adrien wird ihm nicht sagen, wo er uns gefunden hat, weil das Geheim bleiben soll, so wie unsere Existenz Geheim bleiben soll.

Adrien räuspert sich. „Sie sind Adeline Furniers Kinder, Armand. Mehr müsst ihr zu diesem Zeitpunkt nicht wissen.“

„Hast du Beweise dafür?“, fragt der Mann, den Adrien Arman genannt hat und starrt mich und meinen Bruder weiter an.

Welche Beweise braucht er denn?, frage ich Manu  stumm und sehe ihn an.

Vielleicht einen Mutterschaftstest… antwortet er in Gedanken und ich spüre, wie er ein Lachen unterdrückt.

„Sie haben meine Gene und damit die meiner Schwester“, meldet sich Adrien zu Wort und reicht Armand einen Zettel, den er aus seiner Aktentasche nimmt, so als wäre er genau auf diese Frage vorbereitet gewesen.

Ich reiße erschrocken die Augen auf. Wann hat er uns getestet?

Manu zuckt mit den Schultern.

Armand überfliegt den Zettel und nickt zustimmend. Sein Blick gleitet zu mir. „Sie… Sie ist doch eine sie oder?“

Adrien lacht. „Es wirkt auf den ersten Blick nicht so, aber ja.“

„Es ging das Gerücht, dass Adeline Furnier…“ beginnt Armand und wird von Adrien unterbrochen. „Zwei Söhne hat?“, bietet er an und Armand nickt. „Eine Lüge, um sie zu schützen.“

„Wie können wir da sicher sein?“, fragt Armand.

Manu knurrt neben mir. Sollst du ihm etwa deine Brüste zeigen?

Inwiefern ist es wichtig, ob ich ein Mädchen bin?

Manu reagiert nicht und sieht mich auch nicht an.

„Ihr werdet mir vertrauen müssen“, antwortet Adrien. „Wer außer mir, wüsste besser über die Kinder meiner Schwester Bescheid?“

Widerwillig gibt Armand sich geschlagen. „Wann fangen wir an?“

Wann fangen wir an?

Wir sind mittendrin. Manu und ich bereiten uns vor, seit uns Adrien vor sieben Jahren aus dem Kinderheim geholt hat. Wir waren vierzehn Jahre alt, mitten in der Pubertät und in größter Gefahr, ohne dass wir uns dessen bewusst waren. Natürlich wussten wir nicht, wer wir sind und dachten wir wären wie alle anderen Kinder, mal davon abgesehen, dass wir identisch sind. Aber wir sind niemals normal gewesen und auch jetzt sind wir weit davon entfernt, normal zu sein.

Seit inzwischen sieben Jahren sind wir gefangen in diesem Haus. Wobei es kein Haus, sondern mehr eine Kommandozentrale ist, in der wir leben, lernen und trainieren. Wir haben diverse Trainingsräume, ein Schwimmbad, einen Fitnessraum, Privatlehrer, Köche und sogar Therapeuten.

Das tröstet nicht darüber hinweg, dass wir Gefangene sind. Eingesperrt in den Käfig unserer Existenz, wie ein Löwe im Zoo.

Was tut ein Löwe, der sich in die Freiheit kämpft? Ich sehe Manu an.

Er reißt alles in Stücke, grinst er.

Genau… er reißt alles in Stücke…

Emmanuel

Der Löwe reißt alles in Stücke? Ich würde jeden in Stücke reißen, wenn ich im Gegenzug endlich hier raus dürfte. Vor sieben Jahren hat Adrien mich und meine Schwester aus dem Heim gerettet – zumindest definiert er das noch heute so. Für mich war es, als riss er mich aus meinem zu Hause und beraubte mich meiner Freiheit. Gleichzeitig gab er mir aber auch einen neuen Sinn in meinem Leben.

Trotzdem war das Leben früher einfacher – leichter, sorgloser und freier. Heute ist mein Leben bis ins kleinste Detail durchgetaktet. Ich weiß heute schon, was morgen ansteht und den Tag danach und den Tag danach.

„Das ist nicht Sinn der Sache, Noel“, flüstert Elie vor mir. Sie rollt mit den Augen, was ich sehe, obwohl ich ihren Arsch im Gesicht habe. „Ich höre deine Gedanken rattern, dabei sollst du dich entspannen.“

„Wozu soll das überhaupt gut sein?“, murre ich und beobachte genau, was meine Schwester tut. „Ich hätte mehr Lust dich mit den Würgehölzern zu strangulieren.“

„Du meinst, ich dich?“ Elie grinst. „Und jetzt hoch mit dir!“

Ich stütze mich auf die Hände und strecke meinen Arsch in die Höhe, genau in dem Moment, als Adrien zur Tür reinkommt. Ich verliere das Gleichgewicht und falle laut rumpelnd auf die Seite.

„An deinem Gleichgewichtssinn müssen wir wohl noch arbeiten.“ Adrien wirft den Kopf in den Nacken und lacht. Das Aufziehen von zwei Jugendlichen hat ihn viel Kraft gekostet, was man ihm auch ansieht. Die ersten Fältchen zieren sein Gesicht, trotzdem sieht er noch sehr jung aus.

Und verdammt attraktiv …

„Ach geh mir nicht mit diesem Yoga auf den Sack!“ Ich rappele mich auf, stürmere an Adrien vorbei und rempele ihn mit der Schulter an, was ihn kurz aus dem Gleichgewicht bringt.

Aufgebracht verschwinde ich in der Dusche und lasse mir das Wasser über das Haar laufen. Anders als Elie und ich, hat Adrien haselnussbraune Locken und leuchtend grünen Augen, wie unsere Mutter. Wir haben das blonde Haar und die blauen Augen unseres Vaters geerbt. Das Fehlen der Furnier-Gene schützt uns. Wir sind Kopien unseres Vaters.  Wobei ich noch mehr als Elie, obwohl wir eineiige Zwillinge sind. Früher war es noch leicht uns zu verstecken. Unsere Eltern kürzten den Namen Estelle auf Elie ab, schnitten ihr die Haare ab und zogen ihr meine Kleidung an. Plötzlich war sie mein Spiegelbild und wir beide eineiige Jungs.

Adrien holte uns aus dem Kinderheim kurz bevor Elie sich in einen Männertraum verwandelte. Lange blonde Haare, endlos lange Beine, ein bildschönes Gesicht und eine Traumfigur, was sie dem vielen Training zu verdanken hat.

Heute würde jedem auffallen, dass wir eineiige Zwillinge mit unterschiedlichem Geschlecht sind, was permanente Gefahr für uns bedeutet und der Grund ist, wieso Adrien uns gefangen hält.

„Starker Abgang!“

Ich reiße die Augen auf und sehe meinen Onkel direkt vor mir in der Gemeinschaftsdusche stehen. Die graue Sporthose und das schwarze Shirt, schmiegen sich eng an seinen Körper

„Yoga? Im Ernst?“, frage ich ihn säuerlich.

„Ich dachte, das bringt dich etwas runter“, erklärt er. „Nachdem …“

„Du mich nicht mehr runterbringst, meinst du?“ Ich schüttele den Kopf.

Adrien wiegt den Kopf hin und her. „Du hast allen Grund mich zu hassen. Glaub mir – ich hasse mich selber.“

Ich zucke mit den Schultern. „Bleibt doch alles in der Familie.“

Adrien lässt seine Augen über meinen Körper gleiten und ich tue es ihm gleich. Die Beule in der grauen Sporthose, zieht meinen Blick magisch an und mir schießt das Blut zwischen die Beine. Die Luft zwischen uns scheint zu vibrieren und ich hasse es – hasse es, wie mein Körper mich verrät, als wäre ich wieder vierzehn Jahre alt und hätte mich nicht unter Kontrolle, wüsste nicht wohin mit mir. Die einzige Hilfe, die ich hatte, war mein verfickter Onkel und ich hasse es zugeben zu müssen, dass er tatsächlich eine Hilfe war, bei allem was mich quälte.

Aber ich bin erwachsen und brauche seine Hilfe nicht mehr – ich will seine Hilfe auch nicht mehr und doch verrät mich mein verdammter Körper.

„Ich kann nicht.“ Adrien schließt die Augen.

„Ich auch nicht“, antworte ich.

Seine Atmung beschleunigt sich und ich sehe, wie er mit sich hadert. Langsam öffnet er die Augen und kommt auf mich zu. Seine Kleidung durchnässt binnen von Sekunden.

„Ein letztes Mal noch“, lässt er mich wissen und straft sich selber Lügen, weil er das vor jedem Mal sagt und danach auch.

Ehe ich ihn aufhalten kann und ich hätte es sowieso nicht getan, kniet Adrien schon mir und hat seine vollen Lippen über meine pralle Härte gestülpt. Ich packe seine braunen, weichen Locken und drücke ihn fest auf meinen Schwanz runter und halte ihn an Ort und Stelle, bis er würgt und ihm der Speichel aus dem Mund läuft. Er krallt seine Finger in meine Oberschenkel und will sich von mir lösen, aber ich lasse ihn nicht.

„Ich sollte dich mit meinem Schwanz ersticken“, brumme ich und lasse Adrien zurückweichen.

Er sieht zu mir auf, seine Augen sind voller Schmerz. „Ja, das solltest du.“

An den Haaren zerre ich ihn zu mir nach oben und presse ihn an die Duschwand. Grob zerre ich ihm die Hose herunter und er keucht. Als sein knackiger Po zum Vorschein kommt, dringe ich hart und ohne Vorbereitung in ihm ein. Adrien schreit auf und ich drücke seinen Kopf so fest an die Wand, dass die Fugen sicher Spuren auf seiner Haut hinterlassen.

Ich lasse meinen ganzen Frust an ihm aus, will ihn quälen und ihm weh tun. Ich will, dass er leidet, genauso sehr wie ich gelitten habe.

„Ich. Hasse. Dich!“ Die Worte kommen im selben Takt heraus, in dem ich ihn gegen die Wand ficke.

„Ich weiß.“ Adrien stöhnt, als ich mich tief in ihn schiebe.  

Ich greife um ihn herum nach seinem steifen Schwanz und drücke ihn so fest, dass Adrien quietscht.

„Na los, spritz schon ab … ein letztes Mal noch …“, knurre ich und reibe seinem Schwanz, bis er sich laut stöhnend gegen die Wand ergießt.

Sein Arsch quetsche mich so fest, melkt mich so verdammt gut, dass ich mich tief in ihm entleere. Fest beiße ich ihm in den Nacken und sauge dabei seinen Duft in mich auf. Langsam ziehe ich mich zurück. Mit zitternden Beinen lehnt Adrien noch immer an der Wand, während mein Sperma aus dem Arsch an seinen Oberschenkeln herabläuft.

Meinen Blick auf meinen Onkel gerichtet, ist mein Schwanz ist immer noch hart und wird noch härter. Adrien löst sich von der Wand und zerrt sich seine nasse Hose nach oben.

 „Das war das letzte Mal.“ Er schüttelt den Kopf und sieht mich nicht mal an, als er die Dusche verlässt.

Ja, das letzte Mal – es ist immer das letzte Mal, wie gestern als es das letzte Mal war und den Tag davor und den Tag davor. Ein Monat voller letzter Male, nachdem Adrien mir eröffnet hat, dass es aus ist. Dass er das nicht mehr kann, dass er das nicht mehr will – dass er mich nicht mehr will.

Aber ich will ihn auch nicht mehr – habe ihn nie gewollt. Habe mich nicht nach ihm verzehrt, seit er mich aus dem Heim geholt hat, wie ein Engel in der Nacht, wie Licht in meinem Schatten, wie Zuckerwatte und Regenbögen in der Hölle. Nein, immer schon habe ich ihn gehasst, für das was er getan hat. Für das was er für mich gewesen ist. Für die Hand die er mir reichte und sie mir wieder entriss. Für das was einer Familie am nächsten kam. Für das Gefühl von Nähe und Wärme, dass sich wie Säure in meinem Körper ausgebreitet hat. Ja, ich hasse ihn und werde ihn immer hassen. Er verdient es, meinen Hass zu spüren – viele weitere letzte Male.

Estelle

"Sehe ich heute wirklich so scheiße aus?“ Manu schneidet eine Grimasse, als ich vor ihm stehe und so tue, als würde ich in einen Spiegel sehen.

„Haha, sehr witzig“, entgegnet er. „Und ja, du siehst wirklich scheiße aus.“

Ich boxe Manu gegen die Schulter und renne kichernd in die Küche, bevor er mich erwischt und zu Boden ringt.

Ich schenke Kaffee ein und schiebe Manu eine Tasse über den Tresen zu, als er in die Küche kommt.

Als wir Kinder waren, dachte ich, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, an dem wir uns voneinander entfernen. Spätestens als wir in die Pubertät kamen und sich unsere Körper völlig unterschiedlich entwickelten und wir zum ersten Mal nicht mehr identisch waren, blieben wir in unserem inneren eins. Und auch jetzt hat sich daran nichts geändert, obwohl wir inzwischen einundzwanzig sind. Zwischen uns gibt es praktisch keine Distanz, wir sind zwei Teile eines Ganzen und kommen ohneeinander nicht gut zurecht.

Selbst wenn unser Onkel uns nicht zusammen in einem Trainingslager gefangen halten würde, wären wir auch so zusammengezogen. Für uns ist von Anfang an klar gewesen, dass wir zusammen leben wollen, zusammen gehören. Das mag auf viele Menschen befremdlich wirken, für uns ist es allerdings normal. Wir haben uns schon ein zu Hause geteilt, als unsere Mutter mit uns schwanger war. Für uns wäre es befremdlich, das nun aufzugeben. Es wird sicher schwierig, wenn wir in einer Beziehung mit anderen Personen sind, aber wir möchten so akzeptiert werden, wie wir sind. Wobei eine Beziehung für mich und Manu ohnehin nicht in Frage kommt. Wir haben wichtigeres zu tun.

Wie auf Kommando, kommt Adrien zu uns in die Küche. „Was macht ihr noch hier?“

Ich sehe Manu fragend an. Was meint er?

Manu  nippt an seinem Kaffee. Scheiße, ich weiß nicht mal welcher Tag heute ist.  

Mittwoch. Ich rolle mit den Augen. Mittwochs haben wir in der ersten Stunde immer Theorie.

Ich hasse Theorie, denken Manu und ich gleichzeitig und grinsen uns an.

„Ich dachte, ihr kommt nur mittwochs zu spät, aber nun scheinbar auch donnerstags“, gibt Adrien genervt von sich.

Manu zeigt auf mich und bricht in schallendes Gelächter aus.

Ich dränge mich an Adrien vorbei aus der Küche und hole schnell meine Sportsachen aus meinem Zimmer. Dieser Raum, ist eins der wenigen Dinge in meinem Leben, das ich nicht mit meinem Bruder teile.

Im Kinderheim haben wir im selben Schlafsaal Seite an Seite geschlafen. Als Adrien und zeitgleich mit ihm die Pubertät kam, brauchten wir etwas Abstand zueinander um unsere sich unterschiedlich verändernden Körper kennenzulernen und zu erforschen und so haben wir es beibehalten, um uns so normal wie möglich entwickeln zu können.

„Wo warst du denn so lange?“, tadelt mich Manu, als ich in meiner Sportkleidung in den Trainingsraum komme.

Ich deute auf seine Brust. „Hast du mal versucht einen Sport-BH anzuziehen?“

Manu verzieht das Gesicht und deutet auf den Balken. „Du bist dran.“

Ich klettere auf den Balken und balanciere mich aus, als ich mich darauf erhebe. Manu reicht mir die Augenbinde und ich verbinde mir die Augen.

Ich lausche in die Stille. Obwohl mein Bruder sich bewegt, wie ein Geist, weiß ich genau, wo er sich aufhält. Schnell lehne ich mich zurück und das Messer saust dicht an meiner Nasenspitze vorbei. Ich spüre den Windhauch und höre, wie das Messer scheppernd zu Boden geht.

Plötzlich verändert sich die Energie im Raum und ich höre Adriens Stimme. „Ihr seid eine Person. Es dürfte wohl keine Herausforderung sein, auszuweichen. Manu gib mir die Messer.“

Ich straffe die Schultern und wappne mich darauf, den Messern in völliger Dunkelheit ausweichen zu müssen, weil ich Adrien nicht fühlen kann. Aber ich bin nicht völlig hilflos.

Nach rechts. Ich höre Manus Warnung, als würde er sie mir ins Ohr brüllen und weiche nach rechts aus. Das Messer saust an mir vorbei und geht zu Boden.

„Hör auf ihr zu helfen, Manu “, schimpft Adrien. „Leiste ihr lieber Gesellschaft.“

Ich spüre wie Manu zu mir auf den Balken klettert und sich ebenfalls die Augen verbindet.

Schweigend stehen wir nebeneinander.

Mach dir nicht ins Hemd, tadele ich meinen Bruder, weil ich seine Angst riechen kann.

Ich würde mein gutes Aussehen gerne behalten.

Manu und ich atmen so leise und flach wie möglich, um unsere anderen Sinne zu schärfen.

Da, hörst du das?

Ich lausche angestrengt, kann aber außer Manus Atem nichts hören.

Adriens Schuhe… Er steht rechts von uns.

Ich drehe meinen Kopf nicht in Adriens Richtung, um ihm nicht zu verraten, dass wir wissen, wo er sich befindet.

Schnell ziehe ich Manu an mich und das Messer fliegt an uns vorbei und geht hinter uns zu Boden.

Woher wusstest du das?

Ich grinse und obwohl Manu mich nicht sehen kann, spürt er es. Adrien hat Angst und bekommt jedes Mal einen plötzlichen Schweißausbruch wenn er Gefahr läuft, uns zu verletzen.

Ich atme tief ein und kann den Geruch seines Deos noch stärker wahrnehmen, als sonst.

„Gut“ Adrien klatscht in die Hände. „Das reicht für heute.“

Manu und ich nehmen die Augenbinden ab und springen synchron vom Balken.

„Ihr ergänzt einander perfekt.“ Adrien sieht uns bewundernd an. „Alleine seid ihr sehr gut, aber zusammen unbesiegbar.“

Tränen sammeln sich in Adriens Augen.

„Heulst du etwa?“, frage ich taktlos und Manu stößt mich tadelnd mit der Schulter an.

Schnell schüttelt Adrien den Kopf. „Ihr seid soweit.“

Mit großen Augen sehe ich meinen Onkel an. Sieben Jahre, waren wir aneinander gebunden und nun soll das alles so schnell hinter uns liegen?

Während ich nicht weiß, was ich tun soll, ist Noel schon einen Schritt weiter. „Das heißt… Wir… Können wir raus?“ Noel sieht Adrien voller Hoffnung an. Im Gegensatz zu mir, freut sich Noel endlich am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, als wäre er ein normaler Teil davon und keine gefährliche Waffe. Er ist aber auch besser vorbereitet als ich. Mein Bruder weiß immer was zu tun ist und ohne ihn bin ich aufgeschmissen. Er ist unglaublich Intelligent und obwohl er Theorie genauso sehr hasst wie ich, ist er ein teuflisch guter Stratege. Alles was ich gut kann, ist kämpfen. Ich bin allein schon aufgrund meiner Statur schneller und wendiger als Noel, dessen Körper dem eines Rugbyspielers gleicht. Mit den schulterlangen, blonden Haaren sieht er ein bisschen aus wie Thor aus dem Kinofilm, den ich neulich gesehen habe und genauso kräftig ist er auch. Wenn Noel mich mal erwischt, rammt er mich unangespitzt in den Boden. Da kennt er keine Gnade, aber er weiß auch genau wie weit er gehen kann. Noel ist mein Stützrad und ohne ihn wüsste ich nicht, wie ich es bis hier hergeschafft habe, oder es noch weiter schaffen sollte.

„Wir haben die Prüfungen in zwei Wochen angesetzt und danach starten wir.“ Adrien sieht plötzlich besorgt aus. „Vorausgesetzt ihr besteht.“

In Noel schrillen gerade alle Alarmglocken. „Ich kann dir eine Dose vom Kopf schießen, ohne dich zu verletzen und du kannst Messer auf mich werfen, ohne mich zu verletzten. Auch ohne Waffe, bin ich mehr als tödlich. Mit dem Wissen, dass ich habe, kann ich ein Unternehmen leiten, oder die Bundesdruckerei ausrauben, ohne erwischt zu werden. Was willst du denn noch?“ Noel bekommt Schnappatmung und ich lege ihm beruhigend einen Arm auf die Schulter.

„Die nächste Woche…“, beginnt Adrien. „Das wird hart.“

Ich zucke mit den Schultern. „Härter als jetzt?“

„Für euch ja“, antwortet Adrien und sieht uns voller Sorge an.

Alejandro

"Nein.“ Ich schüttele den Kopf, um meine Antwort zu unterstreichen.

„Das war keine Frage“, weißt mein Vater mich zurecht.

„Wieso kann Toni das nicht machen?“, frage ich.

„Für Antonio habe ich eine andere Aufgabe“, sagt mein Vater.

Ich will etwas sagen, werde aber direkt unterbrochen. „Das war dann alles, Alejandro.“

Ich erhebe mich vom Esstisch und werfe meiner Mutter einen entschuldigenden Blick zu, bevor ich in mein Zimmer gehe.

Seufzend lehne ich mich an die Wand und atme den Rauch tief in meine Lunge ein.

„Rauchen ist ungesund“, tadelt mich mein Bruder, als er in mein Zimmer kommt.

„Wen interessiert das, Toni?“ Ich stoße den Rauch aus und bewege mich mit meiner Zigarette auf ihn zu.

Toni nimmt mir die Zigarette aus der Hand und nimmt einen Zug.

„Ich dachte du hast aufgehört.“ Ich lasse mich auf mein Bett fallen.

„Das dachte ich von dir auch, Andro.“ Toni nimmt noch einen Zug, bevor er das Fenster öffnet und die Zigarette nach draußen schnippt. „Wegen welcher Drecksarbeit hat er dich herbestellt?“

„Hayden“, antworte ich.

„Sauber machen?“ Toni hebt überrascht die Brauen und setzt sich neben mich auf das Bett.

„Nein, nur nach dem Rechten sehen… Was auch immer das heißt“, berichte ich.

Nach dem Rechten, läuft schon lange nichts mehr in diesem versifften Club. „Was ist mit dir?“

„Discreet“ Toni grinst.

„Oh Fuck“, fluche ich. „Wieso?“

„Discreet ist etwas für echte Männer“, lässt Toni mich wissen.

„Weiß Dad, dass du sein Eigentum beschmutzt?“, frage ich.

Toni steht auf und lächelt selbstgefällig. „Und genau deshalb, mein lieber Bruder, schickt Dad dich ins Hayden.“

Ich schüttele den Kopf, als mein Bruder mein Zimmer verlässt und lasse mich rückwärts auf mein Bett fallen.

In Gedanken versunken starre ich an die Decke und frage mich, wann ich zurück nach Hause darf.

Nach Hause…

Zum ersten Mal richtig zu Hause gefühlt habe ich mich, als ich an die Colorado State University in Rhoda Colorado gehen durfte. Zwar ist die Universität nur eine halbe Stunde Fahrt von meinem Elternhaus entfernt, aber doch weit genug, dass sich mein Leben fast normal anfühlt.

Umgeben von meinen Kommilitonen bin ich einfach bloß Andro.

Nicht Alejandro Haydiaz… Ältester Sohn des Clanführers Bronko Haydiaz… Nein, einfach nur Andro.

Als wäre mein Leben ein Spiel für meinen Vater, bestellt er mich in den Ferien immer nach Hause um mich mit irgendwelchen Aufgaben zu betrauen, die auch einer seiner Handlanger erledigen könnte.

Ich erhebe mich seufzend vom Bett und mache mich auf den Weg ins Hayden. Der Club ist der angesagteste in der ganzen Stadt und Samstag Abend ist dort immer die Hölle los. Seit ich weiß, dass der Club nur als Geschäft zur Geldwäsche dient, sehe ich ihn allerdings mit anderen Augen.

Ich verziehe das Gesicht als ich an der langen Schlange vorbei gehe und der Türsteher mich reinlässt.

Von der Bar schnappe ich mir ein Bier, bevor ich nach hinten in das Büro gehe, wenn man es denn Büro nennen kann und sehe mir die Papiere an.

Mein Vater beschäftigt gute Leute, die dafür sorgen, dass auf dem Papier alles sauber aussieht, was mich nunmehr wieder zu der Frage führt, wieso er mich mit einer derart unwichtigen Aufgabe betraut. Möglicherweise sehe ich das alles falsch und er möchte mich al angehenden Anwalt mit der Aufgabe betrauen. Allerdings hat mein Vater genug Spitzenanwälte an seiner Seite, die alles Prüfen, was er geprüft haben möchte. 

Seufzend lasse ich die Papiere auf dem Schreibtisch hinter mir und gehe wieder in den Club. Die Musik wummert über meinem Kopf und das flackernde Licht führt dazu, dass mir der Kopf weh tut.

Ich sehe schon das Lachen meines jüngeren Bruders vor mir. Er fühlt sich in so einer Umgebung deutlich wohler als ich. Das Gleiche gilt für unsere Familie. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass nur ich, da nicht so richtig reinpassen will.

Ich setze mich an die Bar, bestelle mir ein Bier und lasse meinen Blick durch den Club schweifen.

Schon bald wird all das mir gehören…

In einem Jahr mache ich meinen Abschluss und anstatt frei zu sein, bindet mein Vater mich noch enger an sich.

Ich zucke zusammen, als mein Handy klingelt.

„Was gibt’s?“, frage ich, nachdem ich gesehen habe, dass es mein Bruder ist.  

„Discreet ist tot“, lässt er mich wissen.

Toni muss mir nicht erklären, dass er sich ausgetobt hat und nun Abstand von diesem Etablissement braucht.

„Kommst du mit, die Konkurrenz abchecken?“

Ich verspanne mich, weil ich weiß, dass unser Vater das nicht gut findet, aber Toni hat sich noch nie an irgendwelche Regeln gehalten. Gerade deshalb steht er meinem Vater auch näher, als ich es tue.

„Bin gleich da“, antworte ich.

Als würde ich meinen kleinen Bruder alleine gehen lassen. Zwar kontrolliert unser Vater diesen Bundesstaat, aber dadurch haben wir auch viele Feinde. Sehr viele Feinde, die uns sofort erkennen, weil wir eindeutige, unveränderbare Merkmale an uns tragen, die wir nicht mal dann ablegen können, wenn wir es wollten.

Als wären wir die blue-Men-Group ohne Möglichkeit uns abzuschminken. Über unseren Köpfen ist eine verdammte Leuchtreklame mit dem Wort Haydiaz angebracht.

Aufgrund dessen ist es an der Universität zunächst nicht leicht gewesen, Fuß zu fassen. Entweder wurde Abstand zu mir gehalten, oder irgendwelche Speichellecker haben versucht, meine Freunde zu sein, um von der Leuchtreklame über meinem Kopf zu profitieren. Es hat gedauert, bis meine Kommilitonen erkannt haben, dass ich einfach nur Andro bin, nicht mehr oder weniger.

Ich bin gespannt wie es für Toni sein wird. Er beginnt in einem Monat sein Jurastudium an der gleichen Universität wie ich. Erfahrungsgemäß kommt er mit Neuem besser zurecht, als ich, allein schon deshalb, weil er die Leuchtreklame liebt. Er genießt es, überall erkannt zu werden und bringt sich deshalb immer in brenzlige Situationen, weil er den Kick braucht.

Konkurrenz abchecken.

Die Gefahr ist groß, dass er dabei abgeknallt wird.

Ich trete in die kühle Nachtluft hinaus, ziehe meine Waffe und überprüfe das Magazin, bevor ich in mein Auto steige. Mein Vater besteht darauf, dass wir immer bewaffnet sind, aber darauf wäre ich auch selbst gekommen. Wenn jemand dir kontinuierlich nach dem Leben trachtet, kannst du dich nie wirklich sicher fühlen. Schon von klein auf, lernten wir dem Umgang mit Waffen, aber mehr noch, keine Angst davor haben zu müssen. Als ich fünf war, hat mir mein Vater eine geladene Waffe an den Kopf gehalten, solange bis ich aufgehört hatte zu weinen. Die Angst vor dem Tod, dürfe uns nicht brechen, hat er gemeint.

Keine Erziehungsmethode die ich empfehlen würde.

Als ich vor dem Club ankomme und aus dem Auto steige, werde ich direkt angesehen, als wäre ich ein bunter Straßenköter in einer Pudelausstellung.

Verfickte Leuchtreklame…

Das ‚Breault‘ ist in der Rangfolge der Clubs direkt hinter dem Hayden. 

Ich dränge mich an der Schlange vorbei und der Türsteher lässt mich ungehindert durch.

Es hat sicher Vorteile, ich zu sein, aber ist mein Leben diese Vorteile wert? Diese Leuchtreklame ist immer auch Zielscheibe auf meinem Rücken.

Mein Bruder sitzt grinsend an der Bar und prostet mir mit einem Bier zu.

Ich setze mich zu ihm. Toni greift hinter die Bar und reicht mir ein Bier, als wäre hier Selbstbedienung.

Seufzend schüttele ich den Kopf, weil Toni es darauf anlegt erschossen zu werden.

„Konntest du keinen Druck ablassen?“, frage ich.

Toni grinst selbstgefällig. „Wann hast du das letzte Mal Druck abgelassen?“

„Ich komme klar“, antworte ich ausweichend.

Im Gegensatz zu meinem Bruder, vögele ich nicht alles was sich bewegt. Ich habe durchaus gewisse Ansprüche an eine Sexualpartnerin, habe aber keine Probleme diese zu erfüllen.

Schnell werfe ich meinem Bruder einen Blick zu. Könnte er meine Gedanken hören, würde er mich auslachen.

„Du weißt, dass es kein Disney-für-immer-und-ewig für uns gibt“, sagt mein Bruder ernst.

„Ja, ich weiß“, entgegne ich.

Mir sind die Pläne unseres Vaters besser bekannt, als Toni und ich weiß auch, dass er aus meiner Sicht noch übler dran ist als ich, auch wenn Bronko Haydiaz das für eine ehrenwerte Aufgabe hält.

„Wieso versuchst du es dann?“, harkt er nach.

„Tue ich doch gar nicht“, stelle ich klar. „Nur weil ich Frauen nicht wie Dreck behandele, heißt das nicht, dass ich mich verliebe.“

„Gut.“ Toni nickt. „Sie wie Dreck zu behandeln hilft aber dabei, Abstand zu halten.“

Toni lächelt süffisant und lässt seinen Blick durch den Club schweifen.

„Ach wirklich?“, frage ich, weil ich weiß, dass Frauen an ihm kleben, wie Haare an feuchter Seife.

„Na, es hilft mir Abstand zu halten“, erklärt Toni und lacht. „Die Frauen stehen drauf.“

Ich trinke mein Bier in einem Zug leer, greife hinter die Bar und hole mir und meinem Bruder ein Neues.

Toni schüttelt lachend den Kopf, als er das Bier entgegen nimmt.

Emmanuel

ch sehe mich um und würde am liebsten davon rennen. Es dauert eine Weile, bis ich feststelle, dass diese Gefühle nicht meine sind, sondern die meiner Schwester. Ich werfe ihr einen Blick zu und zucke zusammen, weil ihre ganze Erscheinung gar nicht ihrem Wesen entspricht.

Elie zuppelt an dem kurzen schwarzen Kleid herum, dass ihr kaum bis zu den Knien reicht. Ihre eisblauen Augen sind schwarz umrundet und ihre Lippen mit einem Lippenstift undefinierbarer Farbe betont. Elies langes blondes Haar trägt sie ausnahmsweise mal offen. Es hängt wie ein glänzender Vorhang über ihren Rücken und endet knapp über ihrem Po. Ihre langen Beine enden in Schuhen mit hohem Absatz, bei denen ich mich schon die ganze Zeit über frage, wie sie darauf laufen kann. Aber Elie bewegt sich wie ein Profi.

Vermutlich hat sie das im Einzelunterricht gelernt. Einmal in der Woche ist in unserem Stundenplan eine Doppelstunde Einzelunterricht vorgesehen, da von uns allein schon wegen unseres unterschiedlichen Geschlechts verschiedene Dinge erwartet werden. Wie auf hohen Schuhen laufen, zum Beispiel.

Ich schüttele den Kopf, weil ich meine Schwester nicht wiedererkenne. Noch nie habe ich sie in so einem Aufzug gesehen und es gefällt mir gar nicht.

Ich sehe zu Adrien, der breit grinsend hinter uns steht und ahne, was er mit einer harten Woche gemeint hat.

Stirnrunzelnd lasse ich meinen Blick durch den Club schweifen und versuche bei der laut über unseren Köpfen wummernden Musik nicht das Gesicht zu verziehen.

Ich habe immer noch das Gefühl wegrennen zu wollen und muss Elies Gefühle beiseiteschieben, um mich selbst spüren zu können. Eigentlich fühle ich mich wohl. Ich bin immer schon ein geselliger Typ gewesen, die letzten Jahre aufgrund unserer Situation nur kaum dazu gekommen. In unserem Stundenplan ist zwar einmal die Woche eine Sozialstunde vermerkt, aber die habe ich öfter geschwänzt, weil Elie keine Lust darauf hatte. Nur wenn es wirklich dringend war, habe ich sie sich selbst überlassen und es hinterher meist bereut, weil Elie sauer war.

Ich sehe mir die ausgelassen tanzenden Menschen an und mein Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln.

Als ich Elies wütenden Blick sehe, zucke ich mit den Schultern. Ich bin ein Mann mit Bedürfnissen.

Ich weiß…

Natürlich weiß sie Bescheid, immerhin war ich es, der mehr Abstand zu ihr wollte und ein eigenes Zimmer brauchte, um körperliche Bedürfnisse befriedigen zu können, von denen Elie offenbar keine hat.

Eigentlich sind wir eins, aber in dieser Hinsicht ist es, als wären wir grundverschieden, was am anderen Geschlecht liegt und daran, dass unsere Körper von verschiedenen Hormonen angetrieben werden. Es ist für uns beide schwer gewesen, als wir uns plötzlich in unterschiedliche Richtungen entwickelt haben, weil wir eben doch zwei Personen sind.

Ach ja? Elie verengt die Augen zu schlitzen.

Ich seufze, ziehe mein Basecap weiter in die Stirn und konzentriere mich wieder auf unsere Aufgabe. Wir haben eine Woche Zeit um unser Sozialverhalten dem anderer Menschen in unserem Alter anzupassen, die nicht in sozialer Isolation zu Kämpfern ausgebildet wurden, damit wir nicht sofort auffliegen, wenn es los geht.

Ich habe mehr Erfahrung als Elie, da ich die Sozialstunden auch mal genutzt habe, aber gemeinsam mit meiner Schwester ist es trotzdem eine Herausforderung, weil ich jeden Kerl in Stücke reißen will, der sie auch nur ansieht. Elie hingegen, will mit niemandem reden, niemanden kennenlernen, sich nicht verstellen müssen und das verstehe ich. Aber wenn wir nächste Woche durchfallen, verzögert sich der Start solange, bis wir die Prüfung bestanden haben. Zeit, die wir nicht haben – die ich nicht habe, wenn ich endlich aus dem Gefängnis ausbrechen und meinen Wärter hinter mir lassen will, ohne zu wissen, ob ich das auch wirklich will. Aber die Flucht nach vorne ist schon immer eher mein Ding gewesen.

Ich löse mich von meiner Schwester und steuere eine Frau an der Bar an. „Darf ich dir einen Drink ausgeben?“

Die Frau reißt die Augen weit auf und lässt ihren Blick anzüglich über meinen Körper gleiten.

Ich trage ein Basecap und eine Sonnenbrille und sehe damit aus wie ein Trottel. Aber die Gefahr ist zu groß, wir könnten erkannt werden. Es gibt nicht viele verschiedengeschlechtliche eineiige Zwillinge, insofern wären wir leicht zu enttarnen.

Ich setze ein strahlendes Lächeln auf und kann sehen, wie die Frau dahinschmilzt. Das ist zu einfach, es ist immer zu einfach und so gar nicht das, was ich brauche und will. Ich will eine Herausforderung. Der Kämpfer in mir, der ich immer gewesen bin, will etwas zu tun haben. Ich will einen Berg an Problemen, die ich ihm austreiben kann. Und ja … ich stehe ausschließlich auf Männer. Harte Brocken, deren Schale ich aufknacken kann und ihr empfindliches Nervengeflecht Stück für Stück freilegen kann. Ein freiliegender, ungeschützter Nerv, wie geschaffen, um ihn in zu malträtieren. Ich wünschte, ich könnte Adrien für all das die Schuld geben, aber ich bin Schuld, auch wenn er sich selbst verantwortlich macht.

Ich bestelle der Frau und mir einen Drink und setze mich neben sie auf den Barhocker. Wärme breitet sich in meinem Bauch aus und ich hasse es. Zwar ist es kein unangenehmes Gefühl, eher so ein prickeln, als hätte ich warmen Sekt getrunken. Aber doch ein ständiger Begleiter, seit verfickten sieben Jahren. Wieso ich gerade jetzt so empfinde, ist mir allerdings ein Rätsel, tritt es doch sonst nur in bestimmten Situationen auf.

Während ich auf die Drinks warte, nehme ich mir die Frau eigehender zu betrachten: Dunkles schulterlanges Haar, braune Augen und ein perfekter Schmollmund. Sie ist hübsch, keine Frage, aber sollte ich mich in ihrer Nähe so wohl fühlen? So wohl wie sonst nur in ganz bestimmten Situationen?

Als ich mich zu ihr rüber beuge, um sie verstehen zu können, zucke ich zusammen, als ich einen Mann am anderen Ende der Bar erkenne.

Er ist es oder? Elie hat ihn vor mir bemerkt.

Ich nicke. Milchkaffee… Kein Zweifel.

So wie du ihn trinkst, nicht. Meine Schwester grinst.

Ich tue tatsächlich zu wenig Milch in meinem Kaffee, aber in einem Mischverhältnis von vierzig Prozent, ist es identisch. Ich würde gerne einen Milchkaffee zubereiten und ihn an seine Haut halten, um sicher zu gehen, dass es die gleiche Farbe ist.

Ich glaube, das fände er nicht so gut. Elie feixt.

Ich entschuldige mich bei der Frau und gehe zurück zu meiner Schwester und ziehe sie am Arm hinter mir her zum Ausgang. Adrien folgt uns unauffällig.

„Wieso brechen wir ab?“, fragt unser Onkel.

„Hast du ihn nicht gesehen?“, harke ich wütend nach, weil Adrien seine Hausaufgabe nicht gemacht hat.

„Was denkst du, was eure Aufgabe ist?“ Adrien runzelt die Stirn. „Ihr lernt theoretisch gegen euren Feind zu kämpfen, ohne ihm je begegnet zu sein. Ihr könnt keine Spinne besiegen, wenn ihr nicht wisst, wie sie aussieht.“

„Wir wissen, wie er aussieht“, korrigiere ich aufgebracht.

„In der Theorie.“ Adrien sieht mich fest an. „Es hilft nicht, wenn ihr euch in die Hose pisst, sobald ihr einen von ihnen zu Gesicht bekommt.“

Adrien wirft einen Blick auf Elie. „Ihr Pokerface ist perfekt. Deins hingegen… Du bist zusammengezuckt.“

„Ich war nicht vorbereitet“, gebe ich von mir.

Ich war nicht auf jemanden wie ihn vorbereitet.  

„Du musst immer vorbereitet sein“, tadelt mich Adrien, „zu jedem Zeitpunkt, weil es dein verdammtes Leben kostet, wenn du es nicht bist und Elies gleich mit.“

Adrien lässt mich einfach stehen, als er zu unserem Auto geht. Wütend folge ich ihm und ziehe meine Schwester an der Hand hinter mir her.

„Mach dir nichts draus“, tröstet mich Elie. „Er hat mich auch ganz schön aus dem Konzept gebracht.“

„Was meinst du?“, frage ich, weil selbst mir entgangen war, dass Elie auf die Überraschung reagiert hat.

„Da war so ein Kribbeln“, Elie zuckt mit den Schultern, als würde es rein gar nicht bedeuten.

Ich bleibe abrupt stehen, so dass Elie in mich hineinläuft und starre meine Schwester an.

Warmer Sekt…

„Ja, genau.“ Elie nickt und überlegt kurz. „Ich habe das schon öfter gespürt, aber diesmal war es irgendwie stärker.

Weil sie dieses Gefühl sonst von mir übernommen hat …

 „Auch ich bin nur ein Mensch“, murrt sie, weil sie meinen Blick völlig falsch deutet.

Das Pokerface meiner Schwester war schon immer undurchsichtig für jeden, der nicht ich ist, insofern ist es kein Wunder, dass Adrien nichts bemerkt hat. Aber dass selbst mir ihre Reaktion entgangen ist, oder ich sie nicht, als ihre Reaktion enttarnt habe, vor allem diese Reaktion, erschreckt mich dann doch.

Ich setze mich wieder in Bewegung und ziehe Elie hinter mir her, um so viel Abstand zwischen meiner Schwester und einer unserer Erzfeinde zu bringen.

Sollten wir abbrechen? Können wir überhaupt noch zurück?

Elie packt mich am Arm und hält mich davon ab, weiterzugehen. „Angst zu haben ist nichts Schlimmes. Es macht uns menschlich und ist kein Grund für einen Abbruch.“

Ich schweige und gehe einfach weiter. Elie soll nicht wissen, dass es nicht die Angst ist, vor der ich Angst habe. Es ist dieses eine Gefühl, dass sich wie Säure in meinem Körper ausbreitet – und nun auch noch in dem meiner Schwester.

Antonio

"Wo zur Hölle steckst du?“, schreit mein Vater mir ins Ohr, als ich den Anruf entgegen nehme.  

Ich drücke den Kopf von der Frau wieder auf meinen Schwanz. „Von Aufhören war nie die Rede“, schimpfe ich.

„Was?“, fragt mein Vater.

„Nichts Dad, ich stecke da nur gerade in einer Sache“, erkläre ich. „Warte kurz…“

Ich lege das Handy beiseite und drücke den Kopf der Frau fest runter auf meinen Schwanz. Sie würgt an mir.

„Kotzt du auf meinen Schwanz, zwinge ich dich es aufzulecken“, drohe ich.

Kurz bevor ich komme, ziehe ich mich zurück und spritze ihr ins Gesicht. Ich liebe es, das zu tun.

Ich lehne mich vor, öffne die Autotür, schubse sie nach draußen und halte mein Handy wieder ans Ohr. Es überrascht mich, dass er wirklich gewartet hat, bis ich abgespritzt habe. Es muss wirklich dringend sein.

„Was kann ich für dich tun, Dad?“, frage ich.

„Meeting… Vor über einer Stunde“, informiert er mich schroff.

Ich lache, weil mein Vater es wirklich schafft, das Wort ‚Meeting‘ so klingen zu lassen, als hätten wir wirklich ein Arbeitstreffen und nicht etwa eine dunkle-Ritter-der-Tafelrunde in der wir über das Schicksal der Menschen in Colorado entscheiden.

„Bin unterwegs“, sage ich.

Ich kann praktisch durch das Telefon sehen, wie mein Vater die Hände zu Fäusten ballt, weil ich nicht rechtzeitig da bin. Andro, der verfickte Streber sitzt sicher längst bei unserem Vater auf dem Schoß, nur darauf wartend, Befehle entgegen zu nehmen. Er ist vergangene Nacht, sogar früh schlafen gegangen, um unser ‚Meeting‘ nicht zu verpassen, während ich mich noch etwas in dem Club betrunken habe. Auf Kosten des Beault-Betreibers versteht sich.

Ich war eigentlich auch schon auf dem Weg zum Meeting, aber ich habe unterwegs eine Frau gesehen, die gerade aus einem Yogastudio kam und hatte Lust, mich verwöhnen zu lassen. Um nicht gegen den nächsten Baum zu fahren, musste ich eben kurz anhalten.

„Bis gleich, Dad“, sage ich, beende das Telefonat und lege den Gang ein.

Mit quietschenden Reifen mache ich mich auf den Weg zum ‚Meeting‘.

Als ich in das Arbeitszimmer meines Vaters komme, sind acht schwarze Augenpaare und zwei blaue auf mich gerichtet.

Überrascht ziehe ich die Augenbrauen hoch, als ich unseren Gast bemerke, der nicht in die Runde passt.

Mein Vater macht eine Handbewegung in seine Richtung. „Ikal Flores… Das ist mein Sohn Antonio Haydiaz.“

„Toni“, winke ich ab und setze mich neben meinem Bruder auf den Stuhl.

Heilige Scheiße… Trägt er etwa ein gebügeltes Hemd?

Ich sehe an mir herab, auf mein schwarzes, fleckiges T-Shirt und der dazu passenden fleckigen Jeans.

Ist das Sperma?

Nicht mal eine Stunde habe ich etwas weg von meinem Bett auf dem Boden geschlafen, weil ich es bis dahin nicht mehr geschafft habe. Geduscht habe ich auch nicht und ich habe mit Sicherheit die heftigste Alkoholfahne.

Mein Vater kocht vor Wut, weil das ‚Meeting‘ seit Wochen angesetzt war. Ich weiß nicht mal aus welchem Grund, obwohl ich darüber in Kenntnis gesetzt wurde. Natürlich habe ich mal wieder nicht zugehört.

Ikal Flores verzieht das Gesicht bei meinem Anblick und mich beschleicht das Gefühl, dass ich etwas verpasst habe.

„Antonio sieht eigentlich nicht aus, wie ein Alkoholiker“, schaltet sich mein Großvater Alejandro Haydiaz Senior ein.

Ikal Flores wirft einen Blick auf Andro. „Was ist mit ihm?“

Mein Vater presst missbilligend die Lippen aufeinander. „Auch wenn es im Augenblick nicht danach aussieht, ist Antonio die bessere Wahl.“

Wahl für was?

Ich sollte besser zuhören und weniger trinken.

„Er wird geduscht und nüchtern sein. Darauf hast du mein Wort, Ikal“, verspricht mein Vater, ohne mich zu fragen, ob ich das auch so sehe.

Aber Bronko Haydiaz bekommt immer und ausschließlich, was er will.

Ikal nickt. „Gut, dann ist es beschlossene Sache.“

„Wann?“, harkt mein Vater nach.

Ikal überlegt einen Moment lang. „Wenn es nach mir geht, schon morgen.“

Mein Vater hebt die Augenbrauen und Ikal seufzt. „Wir haben beide ein Interesse daran, die Sache so schnell wie möglich einzutüten, Bronko. Zusammen können wir uns dem aufziehenden Sturm gestärkt in den Weg stellen.“

Sturm? Scheiße, was läuft hier?

„Antonio hat noch vier Jahre Studium vor sich“, wirft mein Vater ein.

Ikal schüttelt bedauernd den Kopf. „Wir haben keine vier Jahre mehr… Das weißt du genau.“

Als mein Vater nicht antwortet, steht Ikal auf. „Hör auf dich vor der Wahrheit zu verschließen…“

„Sie sind tot“, stellt mein Vater klar.

„Nein, Bronko, eben nicht! Ikal wird laut. „Hörst du nicht die Warnungen? Das Geflüster? Die Ruhe vor dem Sturm?“

„Ich gebe nichts auf das Geflüster von Feiglingen im Schatten“, zischt mein Vater.

„Bitte, dann stirb als Ignorant!“ Ikal verschwindet aus dem Arbeitszimmer und knallt die Tür hinter sich zu.

Seufzend lehne ich mich in meinem Stuhl zurück. „Was für ein tolles ‚Meeting‘.“ Ich mache Anführungszeichen in der Luft. „Sind wir dann durch?“

Keiner der anwesenden Männer antwortet. Ich sehe sie nacheinander an: Mein Großvater, mein Vater, mein Onkel und schließlich mein Bruder.

Alle machen ein Gesicht, als hätten sie Verstopfungen.

„Okay…“ Ich ziehe das Wort in die Länge. „Klärt mich jemand auf?“

Mein Vater steht auf. „Neues Meeting in einem Monat.“ Er sieht mich an. Seine schwarzen Augen durchbohren mich. „Wehe du bist nicht pünktlich… Und nüchtern.“

Nüchtern? Scheiße, ich weiß nicht mal, wie das geht.

„Wozu eine Wiederholung? Das ‚Meeting‘ heute lief doch so gut“, entgegne ich sarkastisch.

„Antonio“, schaltet sich jetzt mein Großvater ein. „Wir brauchen diesen Deal.“

„Wir brauchen ihn nicht“, korrigiert mein Vater. „Wir wollen ihn. Das ist ein Unterschied.“

„Wir brauchen ihn“, stellt mein Großvater klar und sieht seinen Sohn warnend an.

Mein Vater widerspricht ihm nicht.

„Ikal hat recht… Wann wirst du endlich zur Vernunft kommen?“, fragt mein Großvater.

„Wenn ich es mit eigenen Augen sehe.“ Mein Vater verlässt den Raum, ohne sich nochmal umzusehen.

Seufzend steht mein Onkel auf und stützt meinen Großvater auf dem Weg nach draußen und lässt mich alleine mit meinem Bruder zurück.

„Was habe ich verpasst?“, frage ich.

Andro schüttelt den Kopf, steht auf und geht zur Tür.

„Warte“, rufe ich ihm nach. „Todschick dein Hemd.“ Ich grinse.

Andro zeigt mir den Mittelfinger, bevor er nach draußen geht und mich alleine zurücklässt.

©Lisa Lee

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