Prolog
Eine eiserne Faust schließt sich um meine Lunge und ich schnappe nach Luft. Trotzdem renne ich weiter, so schnell ich kann.
Ich habe alles getan, was ich tun konnte. Ich habe gebettelt, geweint, gefleht, sogar versucht zu fliehen.
Jeden Tag habe ich gehofft, mein Leiden würde enden und mit jedem Tag der verging wurde die Hoffnung kleiner.
Bis mir schließlich eine Idee kam, mein Leiden selbst zu beenden. Ein Monat noch, dann ist es endlich soweit. Ich habe alles geplant und vorbereitet. Die Tage habe ich gezählt und hatte nur dieses eine Ziel.
Mein Leben änderte sich schlagartig, als der Anruf kam. Ich musste nicht länger auf mein Ziel warten. Mein größter Wunsch sollte am heutigen Tag in Erfüllung gehen wird. Erleichterung und Glück, wie ich es schon lange nicht mehr gefühlt habe, durchfluteten mich, aber nur solange, bis ich erfuhr, dass ich zwar zurück bekomme, was mir vor fünf Jahren gestohlen wurde, aber anders als ich erwartet habe.
In meiner Panik renne ich weiter und brauche für die Strecke, für die ich sonst dreißig Minuten brauche, nur zehn Minuten.
Schnell wische ich mir den Schweiß von der Stirn. Ich muss furchtbar aussehen und es ist mir egal, was ironisch ist, da ich mir seit fünf Jahren vorstelle, wie es sein wird, wenn mein Wunsch endlich in Erfüllung geht.
Ganz sicher habe ich nicht erwartet nassgeschwitzt und müde zu sein. Ich habe nicht geduscht und Kleidung an, die ich gestern auch schon getragen habe. Mir ist alles egal gewesen, als der Anruf mich aus dem Bett geworfen hat. Ich habe mir einfach etwas übergeworfen und bin losgerannt. Die Hälfte meiner Sachen habe ich bei meinem besten Freund vergessen, bei dem ich geschlafen habe und der wohl auch immer noch schläft. Ich hatte nicht mal Zeit ihn zu wecken und ihm Gelegenheit zu geben, sich mit mir darüber zu freuen, dass mein Martyrium heute anders als erwartet und gehofft endet. Aber ist das ein Grund zur Freude?
Ich stürme die Verandastufen hoch und bin froh, dass ich nicht stolpere. Vor der Tür atme ich tief ein und aus, um meine Lunge aus dem eisernen Griff zu befreien. Mein Magen krampft sich zusammen, aber schlimmer ist der Schmerz in meinem Herzen, als ich die Tür öffne und sich mein größter Traum in einen Albtraum verwandelt.
Camille
einen Monat vorher
„Was hast du da?“, schreit meine Mutter mich an, dabei schreit sie mich niemals an.
Sie reißt mir den Brief aus der Hand, zerknüllt ihn und schmeißt ihn in den Müll, was nichts ändert, da ich ihn bereits gelesen habe – elf Mal. Ich wollte ihn gerade ein zwölftes Mal lesen, bis meine Mutter mich mit ihrem Geschrei davon abgehalten hat.
„Ist das wahr?“, schreie ich zurück.
Mama schweigt, so sehr habe ich sie aus dem Konzept gebracht.
„Also?“, harke ich nach.
„Mom?“ Ich werde lauter, als Sie mir immer noch nicht antwortet.
„Antworte mir, oder ich schwöre, ich werde dieses Haus verlassen und die Wahrheit alleine herausfinden“, drohe ich.
„Ja.“ Die Stimme meiner Mutter ist nur noch ein Flüstern. „Camille, bitte, du musst das verstehen.“
„Ich muss was verstehen?“, zische ich. „Das ich Geschwister habe, von denen ich nichts weiß?“
„Du bist ein Einzelkind“, zischt meine Mutter.
Ich hole den zerknüllten Brief aus dem Müll und lese den unteren Abschnitt des Briefes:
…Zwei Monate noch… Wir zählen schon die Tage, bis wir unsere Schwester endlich wieder in die Arme schließen können. Zwei Monate noch, dann wird uns nichts mehr aufhalten. Nichts wird uns je wieder trennen können.
Gabriel sitzt schon auf gepackten Koffern und wartet darauf, dich endlich abzuholen und nach Hause zu bringen. Dahin wo du hingehörst.
Halte durch! Nicht mehr lange und wir werden endlich wieder zusammen sein.
In Liebe, deine Schwester Aline.
Ich schüttele den Kopf. „Aline schreibt, dass es nur noch zwei Monate sind…“
„Ich weiß“, unterbricht meine Mutter mich und deutet auf die Umzugskartons. „Deshalb bringe ich dich hier weg.“
Verwirrt schüttele ich den Kopf.
Es dauert noch etwa zwei Jahre, bis ich meinen Abschluss machen kann. Geplant war, dass meine Mutter mit mir umzieht, wenn ich an meine Traum-Universität gehe: Die Gianna-School in New York, vorausgesetzt, ich erhalte eine Stipendium. Weil Meine Mutter hier nichts mehr hält, wollte sie in meiner Nähe sein und auch wenn es ungewöhnlich ist, seine Eltern mit zur Universität zu nehmen, hat mir der Gedanke gefallen. Mama hat sich so auf den Umzug nach New York gefreut, dass sie sofort mit dem Packen angefangen hat, obwohl wir noch zwei Jahre Zeit haben.
Oder nur zwei Monate?
„Gabriel sitzt schon auf gepackten Koffern“, lese ich den Abschnitt des Briefes vor. „Gabriel… Ist er mein Bruder?“
Meine Mutter nimmt mir den Brief aus der Hand und zerreißt ihn in winzig kleine Schnipsel, die niemand je wieder zusammenpuzzeln kann. Sie schmeißt die Schnipsel in den Müll.
„Gabriel… Er ist der Grund wieso wir gehen müssen“, entgegnet meine Mutter leise. „Dieser Bengel… Er gibt einfach nicht auf…Ich habe doch alles versucht…“
Mama wirkt eher als ob sie mit sich selbst sprechen würde.
Sie umarmt mich und streicht mir beruhigend über den Rücken. „Ich bringe das wieder in Ordnung… Versprochen.“
Ohne mich eines Blickes zu würdigen, verlässt sie mein Zimmer und lässt mich ratlos zurück.
…
Frustriert schüttele ich den Kopf. Ich habe jeden Zentimeter in jedem Winkel dieses Hauses durchsucht und nichts gefunden.
„Wieso bist du so sicher, dass deine Mutter noch mehr versteckt?“, fragt meine Freundin Miranda, als wir in Mamas Schlafzimmer auf dem Fußboden sitzen. Um uns herum herrscht Chaos, weil wir ihre Schränke ausgeräumt haben.
„Der Brief klang so, als wäre er nicht der Erste“, antworte ich. „Es wirkte so, als würden wir uns schon ewig kennen… Und…“
„Was und?“, harkt Miranda nach, als ich nicht weiter spreche.
„…So als hätte ich auf sie warten müssen.“ Ich seufze. „Ich meine, ich kenne das Mädchen doch gar nicht. Wie hätte ich da auf sie warten können?“
Miranda fröstelt. „Das ist irgendwie total gruselig und dann noch dieser Junge, der dich holen kommt.“
„Gabriel“, werfe ich ein. „Der Name klingt schön.“
Miranda sieht mich mit großen Augen an. „Deine Mutter hält ihn offenbar für so gefährlich, dass sie bereit ist umzuziehen.“
„Na ja… er ist mein Bruder“, überlege ich. „Er wird mich wohl kaum töten wollen.“
Ich versuche zu lachen, um meine eigene innere Anspannung zu lösen, scheitere aber kläglich.
Unsicher wühle ich weiter im Schrank meiner Mutter herum. Offenbar sehe ich zu viel Fernsehen, denn ich klopfe sogar die Rückwand des Schrankes auf Hohlräume ab.
„Und wenn du einfach dort anrufst?“, fragt Miranda. „Die Adresse stand bestimmt auf dem Absender. Damit bekommen wir leicht die Telefonnummer heraus.“
Ich schüttele bedauernd den Kopf, um zu verdeutlichen, dass meine Mutter den Brief mitsamt dem Umschlag restlos vernichtet hat. Nicht das ich nicht versucht hätte, die Schnipsel wieder zusammenzusetzen. Aber ich bin kläglich gescheitert, obwohl ich sehr gut puzzeln kann.
„Und der Name?“, schlägt Miranda vor.
„Aline Reed“, antworte ich.
Der Name stand auf dem Absender. Wenigstens den habe ich mir gemerkt. Nun muss ich sie nur noch finden. Ich könnte im Telefonbuch nachsehen, aber ohne konkreten Anhaltspunkt aus welcher Stadt der Brief kam, wird das ein unmögliches Unterfangen.
„Google.“ Ich schnipse mit den Fingern, als mir die Idee kommt. „Heute ist doch jeder im Internet.“
„Reed?“, fragt Miranda und erst jetzt bemerke ich, dass sie mich ansieht, als wäre ich verrückt.
„Was ist?“, frage ich.
„Google doch gleich ‚Bill Gates‘“, entgegnet Miranda und lacht.
„Ich weiß nicht, was du meinst.“ Verwirrt schüttele ich den Kopf.
„Reed… Edward Reed?“ Miranda spricht den Namen so aus, als müsste ich wissen, wer das ist.
Miranda greift nach meinem Handy, öffnet die Einstellungen und scrollt zum letzten Softwareupdate. Sie überfliegt kurz die Informationshinweise des Updates, hält mir das Handy hin und tippt auf das Display. Unter dem Punkt Cybersicherheit lese ich den Firmennamen: Reedsomware.
Fragend sehe ich Miranda an und sie erklärt: „Reedsomware hat das Monopol bei Cybersicherheit, so wie Microsoft beim Betriebssystem.“
„Woher weißt du das?“, frage ich.
Miranda ist genau wie ich, wenig Technikbegeistert und ich wundere mich darüber, dass sie so viel über ein Unternehmen weiß, was sich mit Cybersicherheit beschäftigt.
Miranda läuft rot an. „Edward Reed wurde letztes Jahr zum sexiest Man alive gewählt.“
Ich lache. Miranda mag nichts von Computern verstehen, aber von Klatsch und Tratsch.
Noch immer lache ich, als ich den Namen meiner angeblichen Schwester googele. Wie Miranda vorausgesehen hat, ist der erste Treffer Edward Reed und seine Firma Reedsomware mit Sitz in New York.
„Es gibt sicher noch mehr Menschen mit dem Namen“, murre ich, als ich mich durch die Suchmaschine arbeite.
„Und wenn Edward Reed dein Vater ist?“, fragt Miranda aufgeregt.
Ich schüttele den Kopf, weil ich meinem eigenen Vater wie aus dem Gesicht geschnitten bin.
Ich schaue nach privaten Details über Edward Reed und finde heraus, dass er mit Anna Reed verheiratet war. Aus dieser Ehe sind zwei Kinder hervorgegangen, deren Namen aber nicht bekannt sind. Einige Klatschzeitungen munkeln aber, dass Edward Reed sein ältestes Kind in die Firma holen will.
„Das bringt doch alles nichts“, seufze ich schließlich.
„Versuchen wir die Suche auf einen Ort einzugrenzen“, schlägt Miranda vor.
„Ich bin in Bayfield geboren und soweit ich weiß, haben wir dort gelebt“, überlege ich.
Miranda wirft mir einen mitleidigen Blick zu, weil ich mich an den Hauptteil meiner Kindheit nicht erinnern kann. Ich hatte mit dreizehn Jahren eine postraumatische Belastungsstörung, die durch einen Unfall hervorgerufen wurde, an den ich mich ebenfalls nicht erinnern kann.
Nur noch ein paar Eigenheiten meines Lebens vor dem Unfall sind mir geblieben: Ich habe eine große Süßwassermuschelsammlung aus meiner Kindheit und bin sehr gerne am See, obwohl ich nicht schwimmen kann, weil ich mich im Wasser nicht sicher fühle. Allerdings hat der Geruch des Sees eine beruhigende Wirkung auf mich. Ich fühle mich angekommen… So als gehöre ich genau dort hin.
„Es gibt einen Gabriel Reed in Bayfield“, reißt Miranda mich aus meinen Gedanken und zeigt mir ihr Handy, auf dem sie ebenfalls gegoogelt hat. „Er ist an der Bayfield-Academy.“
Natürlich, die Bayfield-Academy. Als hätte New York keine eigenen Privatschulen.
Es wäre sehr ungewöhnlich, wenn Edward Reed seine Kinder auf die beste Privatschule in Wisconsin schicken würde, anstatt in New York und so die wenigen Plätze an dieser Schule besetzen würde.
Nur die Bayfield-Academy vergibt das begehrte Gianna-Stipendium – für die beste Musikschule des ganzen Landes. Mein Traum war es immer, dorthin zu gehen. Aber selbst wenn ich einen Platz ergattert hätte, könnte ich mir diese Schule niemals leisten.
Meine Mutter ist Krankenschwester und arbeitet Tag und Nacht, um uns über die Runden zu bringen. Mein Vater Hugo ist vor einem halben Jahr verstorben. Er war Musiklehrer und musste seine Arbeit krankheitsbedingt aufgeben. Er bekam Krebs und ich habe ihn das letzte Jahr vor seinem Tod gepflegt, weil meine Mutter weder die Zeit noch die Kraft dazu hatte. Hugo hat meine Leidenschaft für die Musik geweckt. Er wollte immer, dass ich es an die Gianna-School schaffe, so wie es ihm selbst nicht vergönnt war. Aber leider wurde ich nicht mit einem goldenen Löffel im Mund geboren. Ich kann nur hoffen, ein Stipendium zu bekommen.
Ich sehe Miranda über die Schulter, werfe einen Blick in die Zeitung und brummele vor mich hin.
„Ist er Edward Reeds Erbe oder was ist so besonders an ihm, dass die Zeitungen über ihn berichten?“ Ich versuche nicht allzu neidisch zu klingen.
„Er hat diverse Preise gewonnen“, berichtet Miranda. „Irgendetwas mit Computern…“
„Cybersicherheit“, scherze ich und grinse.
Miranda zuckt mit den Schultern. „Wer weiß?“
„So oder so ist mein mutmaßlicher Bruder ein Nerd“, entgegne ich und verziehe das Gesicht. „Ist ein Bild dabei?“
„Nur eins von den Preisen“, antwortet Miranda. „Meinst du, er ist es?“
„Was meinst du genau?“, frage ich. „Mein Bruder, oder Edward Reeds Erbe…?
„Am liebsten beides.“ Miranda wirft einen verträumten Blick an die Decke. „Edward Reeds Sohn, der Bruder meiner besten Freundin… Stell dir mal vor, deine Mutter hatte eine Affäre mit Edward Reed.“
Ich verziehe das Gesicht, weil ich nicht glauben kann, dass meine Mutter ihr Kind weggeben hätte, trotzdem weiß ich zu wenig, um Theorien im Vorfeld auszuschließen.
Ich seufze. „Finden wir es heraus…“
At the same Time… ER
„Du bist endlos dumm“, knurre ich dich an.
Empört wirfst du mir mit deinen großen grünen Augen einen Blick zu.
„Wie konnte das sonst passieren, wenn nicht aus Dummheit?“, harke ich nach.
Du schüttelst den Kopf und wendest dich ab. „Ich hätte nicht herkommen sollen.“
Natürlich hättest du nicht herkommen sollen. Jedes Mal erzählst du mir das. Trotzdem kommst du immer wieder zurück. Als würdest du in meiner Nähe sein wollen. Dabei wissen wir beide, wie schlecht wir füreinander sind. Uns beiden ist klar, dass es kein uns gibt. Wir beide sind zum Scheitern verurteilt, aber das ist doch nichts Neues. Es tat gut, sich auf diese Weise, aus diesem Grund zusammenzufinden und schließlich konnten wir nicht mehr damit aufhören.
„Renn nur“, sage ich in deinem Rücken, als du an der Tür angekommen bist. „Mir kannst du ja doch nicht entkommen.“
„Was denn noch?“, herrschst du mich an und drehst dich zu mir um.
„Ich habe darauf vertraut, dass du das regelst“, lasse ich dich wissen.
„Nur weil du es auf deiner Seite nicht regeln konntest“, tadelst du mich.
Sicher hast du recht, aber ich werde dir sicher nicht recht geben.
„Du hattest nur einen verdammten Job!“, knurre ich.
„Es war nur ein Fehler…“ Du stehst immer noch an der Tür – viel zu weit weg von mir.
„Einer zu viel“, informiere ich dich.
„Das hilft jetzt nicht“, nörgelst du. „Sag mir lieber, was ich jetzt tun soll…“
Natürlich willst du wissen, was du tun sollst und es wäre großartig, wenn du es dann auch genau so tätest. Aber du tust es nicht. Das hast du nie.
„Schaffst du diesmal, zu tun, was ich dir sage?“, frage ich. „Oder kommt dir die Dummheit wieder in quere?“
Frustriert schüttelst du den Kopf und wendest dich zur Tür um.
Langsam knöpfe ich mein Hemd auf. Als würdest du es spüren, drehst du dich an der Tür nochmal zu mir um, die Hand immer noch am Türgriff. Die Hitze steigt dir in die Wangen, als du meinen entblößten Oberkörper zu Gesicht bekommst.
Oh Baby, fang nicht gleich an zu sabbern… Du kannst es nicht.
Noch ehe ich meinen Gürtel öffnen konnte, bis du schon vor mir auf den Knien, wie eine Süchtige, die dringend ihren Stoff braucht. Und du brauchst es wirklich dringend.
Ungeduldig zerre ich dir dein Zopfgummi aus den Haaren, damit deine kastanienbrauen Mähne lang über deinen Rücken fließt. Fest greife ich in dein Haar und zische, als du mir spielerisch in meine empfindliche Eichel beißt.
„Lass das“, schimpfe ich und schiebe mich tief in deinen Mund und als du schon würgst, drücke ich noch etwas nach, solange bis dir die Augen tränen.
Du keuchst, als ich dich endlich freigebe und siehst abwartend zu mir hoch.
Worauf wartest du? Darauf, dass ich dir die Sterne vom Himmel hole? Tja Baby, daraus wird wohl nichts werden.
Camille
Ich setze mich zu meiner Mutter an den Küchentisch und schiebe ihr einen Zettel zu, als sie endlich von ihrer Geschäftsreise zurück ist.
Es ist an der Zeit, reinen Tisch zu machen.
„Anna Reed“, beginne ich. „Sie ist die Mutter von Gabriel und Aline Reed.“
Ich tippe auf das Papier, das vor ihr liegt. „Das ist ihre Adresse.“
Meine Mutter sieht nicht mal auf den Zettel und antwortet auch nicht.
Ich fahre weiter fort. „Ich würde sie gerne besuchen.“
„Nein, Camille…“, bricht Mama endlich das Schweigen. „Du weißt nicht, was du da tust.“
Nachdem Miranda und ich Gabriel gefunden haben, war es nicht schwer, herauszufinden, dass er tatsächlich eine Schwester namens Aline hat, die ebenfalls auf die Bayfield Academy geht.
Weit schwieriger war es, an sie heranzukommen. Gabriel und Aline Reed führen ein Leben in einem Hochsicherheitstrakt. Außer dem Wohnort und der Schule ist nichts bekannt. Keine genaue Adresse, keine Telefonnummer, nicht mal der Name der Eltern. Mir blieb nichts anderes übrig, als eine Nachricht für Anna Reed bei der Sekretärin der Schule zu hinterlassen. Obwohl ich nicht damit rechnete Erfolg zu haben, dauerte es nur ein paar Tage, bis Anna Reed mich persönlich anrief. Wie sich herausgestellt hat, ist sie tatsächlich die Anna Reed – die Exfrau von Edward Reed. Schließlich hat sie gemeint, wir hätten viel zu besprechen und mich und meine Mutter zu sich eingeladen.
Mama schüttelt den Kopf. „Ich verbiete es!“
„Ich bin fast achtzehn, Mom“, entgegne ich leise. „Du kannst mich nicht für immer einsperren.“
„Eben, du bist noch nicht volljährig.“ Zufrieden steht Mama auf und will aus der Küche gehen, aber ich halte sie zurück. „Ich werde auf jeden Fall gehen.“
„Dieser verdammte Bengel“, flucht meine Mutter. „Ich wusste, der würde nur Ärger machen.“
Plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen.
Zwei Monate…
„Gabriel… Ich werde bald achtzehn… Darauf hat er gewartet, oder?“, frage ich, obwohl sich eine Antwort erübrigt.
Gabriel wollte mich holen, wenn ihn meine Mutter nicht mehr aufhalten kann – wenn ich volljährig bin.
„Dieser Junge…“ Mama schüttelt den Kopf. „Ich will dich nicht in seiner Nähe.“
Ich lege meiner Mutter beruhigend einen Arm auf die Schulter. „Meinst du nicht, ich sollte meine Geschwister kennenlernen.“
„Das sind nicht deine Geschwister“, zischt Sie. „Du bist Einzelkind, Camille.“
Tatsächlich ist mir der genaue Verwandtschaftsgrad immer noch nicht bekannt. Anna wollte mir alles persönlich erklären.
Was ich dem Internet entnommen habe, bringt mich nichts mit Edward Reed in Verbindung, aber auch Aline und Gabriel nicht. Wie es aussieht, hält Edward Reed sein Privatleben privat.
„Ich bin Dad wie aus dem Gesicht geschnitten… also bedeutet das, dass Dad mein Vater ist… Ist er auch…“, beginne ich, aber Mama unterbricht mich. „Das sind alles Lügen. Hugo ist nicht Alines Vater.“
„Aber Gabriels?“, harke ich nach.
Meine Mutter winkt ab. „Ich habe dazu alles gesagt.“
Wutentbrannt stürmt Sie aus der Küche.
Ich kann nicht glauben, dass sie mich immer noch wie ein Kind behandelt.
Um mich zu beruhigen setze ich mich an das Klavier. Genau hier hat Hugo mit mir das Klavierspielen geübt. Gelernt habe ich es schon als Kind, aber natürlich erinnere ich mich nicht mehr daran. Woran ich mich aber erinnern kann, ist, wie viel Freude es uns gemacht hat, gemeinsam zu musizieren.
Nun ist diese Erinnerung getrübt. Habe ich Hugo überhaupt gekannt? Wenn es stimmt, dass er außer mir noch zwei weitere Kinder hat, verändert das dann die Art, wie ich ihn sehe oder gesehen habe? Hat er eine Art Doppelleben geführt?
Aber es war kein Doppelleben mit Agenten, wie ich es aus dem Fernsehen kenne, sondern eines, was unsere Familie zerstören oder auch erweitern könnte.
Von Hugo selbst habe ich gelernt, die Dinge positiv zu sehen. Das Leben ist nicht fair oder gerecht, Hugo selbst hat das besser gewusst als jeder andere. Entscheidend ist doch, was wir daraus machen. Ich könnte mich jetzt mit Händen und Füßen gegen diese Veränderung wehren, oder ich nehme sie an und sehe was es Positives mit sich bringt.
Gerade in der Zeit, als ich Hugo gepflegt habe, wünschte ich mir jeden Tag Geschwister. Jemanden auf dessen Schultern die Last gleichmäßig verteilt ist. Ich habe es nie genossen, alleine zu sein und habe mir immer gewünscht, diese Einsamkeit zu überwinden.
Nun plötzlich Geschwister zu bekommen, denen ich auch noch so wichtig zu sein scheine, dass sie die Tage zählen, bis wir uns endlich wiedersehen, gibt mir ein gutes Gefühl, gleich was meine Mutter auch denkt. Natürlich verstehe ich sie auch. Eine mögliche andere Frau im Leben meines Vaters zu akzeptieren, ist nicht leicht für sie. Lieber behält sie Hugo so in Erinnerung, wie sie ihn gesehen hat, als ihn als Ehebrecher zu enttarnen.
Ich klopfe an der Tür zum Schlafzimmer meiner Mutter und trete ein, nachdem sie mich hereingebeten hat.
„Es tut mir leid, Mom“, entschuldige ich mich und setze mich zu meiner Mutter auf das Bett. „Das muss schwer für dich sein.“
Mama zieht mich in eine Umarmung. „Ich habe immer nur versucht, dich zu schützen, das musst du mir glauben.“
„Das weiß ich doch, Mama“, entgegne ich. „Trotzdem muss ich die Wahrheit wissen.“
„Wessen Wahrheit meinst du?“, fragt meine Mutter wütend.
Ich seufze. „Mir ist klar, dass jede Geschichte zwei Seiten hat. Du hast mir nur nie die Gelegenheit gegeben, deine Version anzuhören.“
Mama schüttelt den Kopf und macht so deutlich, dass sie nicht weiter darüber sprechen möchte.
Ich beschließe, ihr etwas Zeit zu geben und gehe in das Musikzimmer meines Vaters. Hier lagerte er seine Instrumente und Unterlagen für den Musikunterricht. Dieses Zimmer ist zu einem Schrein für ihn geworden.
Regelmäßig reinige ich den Raum oder nutze ihn zum üben, aber ich achte genau darauf, dass dieses Zimmer die Energie meines Vaters behält.
Seufzend lasse ich mich auf den Schreibtischstuhl fallen und stütze den Kopf in die Hände.
Ich kann nicht aufhören, an den Brief denken, der mein Leben vor etwa einem Monat ins Chaos gestürzt hat. Wenn ich mich doch nur an irgendetwas erinnern könnte.
Plötzlich kommt mir ein Gedanke. Es mag sein, dass meine Mutter jeden Hinweis der zur Familie Reed führt verschwinden lassen hat, nicht aber die Unterlagen zu meiner posttraumatischen Belastungsstörung, das weiß ich genau. Ich habe sie neulich gesehen, als ich nach weiteren Briefen gesucht habe, sie mir aber nicht genauer angeschaut.
Ich nehme den Ordner aus dem Regal und schlage ihn auf. Zum Vorschein kommen unterschiedliche Befunde von verschiedenen Ärzten und Psychologen.
„Was machst du da?“
Ich zucke zusammen, als meine Mutter plötzlich in der Tür steht.
„Ich… äh…“, stammele ich.
Meine Mutter nimmt mir den Ordner aus der Hand und stellt ihn zurück ins Regal.
„Ich wusste nicht, dass auch das ein Geheimnis ist“, gebe ich wütend von mir.
„Versteh doch, dass es Dinge gibt, die du nicht zu wissen brauchst“, entgegnet Mama. „Ich versuche doch nur, dich zu beschützen.“
Ich weigere mich meine Mutter erneut darauf hinzuweisen, dass ich kein Kind mehr bin und es verdiene, die Wahrheit zu kennen. Sie ist ja doch anderer Meinung.
Als hätte Sie meine Gedanken gelesen, schüttelt meine Mutter den Kopf. „Es gibt immer mehrere Wahrheiten und meine kennst du bereits.“
Mama macht mit den Armen eine Geste, die ihre Umgebung einfängt. „Das hier… Du, ich und Hugo… Das ist meine Wahrheit und deine auch.“
„Aber es gibt jemanden, der denkt, dass unsere Wahrheit lückenhaft ist.“ Ich sehe meine Mutter aufmerksam an. „Und ich würde gerne hören, was das für Lücken sind.“
Mama lehnt sich seufzend an die Tischkante. „Du wirst nicht aufgeben…“
Mir ist nicht entgangen, dass das keine Frage war.
„Du hättest nie aufgegeben, weißt du?“, bemerkt meine Mutter. „Deshalb hatte ich keine Wahl… Ich hatte Glück im Unglück.“
„Was meinst du?“, frage ich
„Dieser Junge… Gabriel“, beginnt Sie. „Versprich mir, dass du vorsichtig bist.“
Ich mustere meine Mutter einen Moment lang und erkenne die Furcht in ihren Augen. Was ist damals passiert, dass Sie solche Angst hat?
Auch wenn es keine gute Idee zu sein scheint, in der längst schon vergrabenen Vergangenheit zu wühlen, weiß ich doch, dass ich es tun muss. Mir fehlen Stücke um das Puzzle, das ich bin, zu vervollständigen. Ich kann nur hoffen, dass ich das nicht bereuen werde.
Camille
Ich werfe einen Blick auf die Landhausvilla und runzele die Stirn. Ich hatte ja schon mit viel Geld gerechnet, aber das Haus beeindruckt mich dann doch.
„Camille, Sina, da seid ihr ja“, ruft Anna fröhlich. Sie steht auf der Veranda und winkt uns zu.
Erschrocken reiße ich die Augen auf, weil ich sie erkenne. Ich erinnere mich genau, sie auf der Beerdigung meines Vater gesehen zu haben. Eine so schöne Frau, war unmöglich zu übersehen. Sie stand ganz am Rand und hat geweint. Als ich im Anschluss nach ihr Ausschau gehalten habe, war sie plötzlich verschwunden.
Anna runzelt die Stirn, weil wir immer noch vor dem Haus stehen.
Ich stupse meine Mutter mit dem Ellenbogen an, als sie nicht reagiert. „Komm schon, Mom.“
Sie gibt sich geschlagen und steigt die Stufen zur Veranda hoch. Höflich strecke ich Anna die Hand entgegen, aber sie ignoriert es und umarmt mich so fest, dass ich keine Luft mehr bekomme. Ihre blonden Korkenzieherlocken nehmen mir noch zusätzlich die Atmung. Ich hole tief Luft und löse ich mich von ihr. Anna mustert mich aus ihren stahlblauen Augen sorgenvoll.
Wir haben nur einmal telefoniert und nun meint sie, wir wären so etwas wie eine Familie?
Ich bin nur aus einem einzigen Grund gekommen – meinen angeblichen Geschwistern zuliebe. Angeblich deshalb, weil ich nicht ganz außer Acht lassen kann, dass Mama Anna für eine Lügnerin hält.
„Sina“, Anna nickt meiner Mutter zu.
„Anna“, entgegnet Sina und schiebt sich an Anna vorbei ins Haus, ohne sie eines Blickes zu würdigen.
„Bitte komm doch rein“, entgegnet Anna sarkastisch und tritt hinter meiner Mutter ins Haus.
Auch wenn weder Anna noch Mama mir etwas erzählt haben, entgeht mir nicht, dass es nicht das erste Mal ist, dass die beiden sich begegnen.
Ich folge ihnen und schnappe nach Luft, als ich mich in dem Flur des Hauses umsehe.
Ist die Bezeichnung Flur noch angebracht, wenn ein Raum so groß wie unser ganzes Haus ist?
„Hübscher Flur“, gebe ich von mir.
Anna lacht. „Das ist die Galerie.“
Die geschwungene Treppe nimmt den größten Raum ein. Den Blick immer noch auf die Treppe gerichtet, zieht Anna mich am Arm nach rechts in einen weiteren nicht weniger großen Raum, der wohl das Wohnzimmer dieses Hauses darstellen soll. Aber vermutlich hat Anna auch dafür eine andere Bezeichnung.
„Aline sieht dir sehr ähnlich.“ Anna sieht mich liebevoll an, als ich auf einem der Sofas Platz genommen habe.
Sie reicht mir ein Foto meiner kleinen Schwester. „Euer Vater hatte starke Gene.“
„Unglaublich“, staunt meine Mutter, die über meine Schulter hinweg das Bild begutachtet. „Wie schön sie ist.“
„Das heißt natürlich nicht, dass Hugo ihr Vater ist“, beeilt Mama sich hinzuzufügen.
Ich kann ihr da nicht zustimmen. Aline hat das haselnussbraune Haar und die karamellfarbenen Augen meines Vaters geerbt, genau wie ich.
„Wie… Ich meine…“, beginne ich, aber Anna unterbricht mich. „Du willst wissen, wie genau ihr verwandt seid?“, fragt sie und ich nicke.
Anna denkt einen Augenblick lang nach, dann erst antwortet sie. „Ich habe einen Fehler gemacht und eine Affäre mit deinem Vater angefangen, die Früchte getragen hat. Ich kann nicht mal sagen, dass ich es bereue… Aline ist neben ihrem Bruder das Beste, was mir je passiert ist.“
Meine Mutter wirft Anna einen wütenden Blick zu. „Du bist viel rumgekommen… Jeder könnte der Vater von Aline sein…“
Anna ignoriert Mamas Einwand und erhebt sich. „Das musst du sicher erstmal sacken lassen. Komm ich zeige dir dein Zimmer.“
Sie wirft Mama einen Blick zu, der keinen Zweifel an ihren Absichten lässt und ich verstehe den Wink sofort. Anna will mit meiner Mutter reden, ohne dass ich anwesend bin.
Ich folge Anna die Treppe hinauf und höre schon nicht mehr zu, als sie mich durch das Haus führt.
Aline ist ein Jahr jünger als ich, das bedeutet, sie ist siebzehn Jahre alt. Da ich etwas später eingeschult wurde, dürften wir etwa in der gleichen Jahrgangsstufe sein.
„Das ist Gabriels Zimmer.“ Anna deutet auf den Raum neben meinem Zimmer. „Aber nur noch etwa für ein Jahr, dann zieht er an die Westküste.“
Auf meinen fragenden Blick hin erklärt sie: „Er träumt davon, Informatik an der Oregon State University zu studieren.“
Anna seufzt. „Gabriel liebt diesen ganzen technischen Kram.“
Ich denke an die ganzen Preise, die er gewonnen hat und frage mich, wie es wohl ist, einen Bruder zu haben, der so schlau ist. Dabei fällt mir auf, dass immer nur von Aline die Rede war.
„Gabriel… Ist er…?“
Aline errät meine Gedanken: „Du möchtest wissen, ob Gabriel dein Bruder ist… Weißt du, Liebes… Das ist nicht so leicht zu erklären.“
Obwohl meine Fragen nicht im Mindesten beantwortet sind, beschließe ich, es für heute gut sein zu lassen.
Als ich endlich alleine bin, lasse ich mich auf das Bett fallen. Wir haben für die Fahrt nach Bayfield einen halben Tag gebraucht, da wir am anderen Ende von Wisconsin in Monroe leben. Ich bin erschöpft und obwohl ich nicht zu Hause bin, fühle ich mich seltsam heimisch.
Viel Zeit zum Ausruhen, bleibt mir allerdings nicht. Ich muss kurz eingenickt sein, denn ich schrecke aus dem Schlaf hoch, als Anna mich ruft.
Als ich die Treppe runter komme, sehe ich als erstes in die karamellfarbenen Augen meiner Schwester, die meinen so ähnlich sehen. Ehe ich weiß, wie mir geschieht, umarmt sie mich.
Erschrocken weiche ich zurück, weil ich mit einer derartigen Begrüßung nicht gerechnet habe.
„Hey… Ich bin Camille“, stammele ich nervös.
Aline schaut mich an, wie ein Insekt, das schleunigst zerquetscht werden sollte. So als wäre ich für die Zerrüttung unseres Lebens verantwortlich.
Sie schüttelt verwirrt den Kopf und ich weiß nicht, was ich davon halten soll.
Aline sieht mich nicht an, als sie aus dem Raum geht. Es vergeht ein Moment, dann hören wir, wie Aline ihre Zimmertür hinter sich zuschlägt.
Anna seufzt. „Ihr dürft euch auf eine Wiederholung freuen.“
Sie stützt ihren Kopf in die Hände und atmet tief durch.
Ich weiß nicht, was sie meint, aber Anna ignoriert meinen fragenden Blick.
Ich nippe an der Tasse Tee, die Anna mir hingestellt hat und frage mich, wann ich aus diesem Albtraum endlich aufwache, als die Haustür aufgerissen wird und ein junger Mann hereinkommt. Er ist groß und gut gebaut. Auf seinem Kopf kringeln sich blonde Löckchen.
Löckchen?
Was denke ich denn da? Ich versuche, nicht das Gesicht zu verziehen, angesichts meiner Gedanken.
Sein weißes T-Shirt ist nass, er wirkt müde und ist völlig außer Atem. Keine einzige Sekunde lässt er mich aus den Augen.
Ich erhebe mich und strecke ihm meine Hand entgegen. „Es freut mich sehr… Ich bin Camille.“
Die stahlblauen Augen des Mannes verengen sich zu Schlitzen, als er mich ansieht und ich zucke zusammen.
Ich kann mich nicht entsinnen, dass mir je so viel Feindseligkeit entgegengebracht wurde, schon gar nicht von einem Mann in meinem Alter. Die meisten Männer ignorieren mich eher, bis auf wenige Ausnahmen. Aber in der Regel sind es eher Verwandte, die mich nicht ignorieren. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass ich mit dem anderen Geschlecht bislang noch keine sehr erfreulichen Erfahrungen gemacht habe.
Der Mann starrt mich weiter an und sein Gesicht ist wutverzerrt, was seiner Attraktivität keinen Abbruch tut.
©Lisa Lee