Leseprobe: Simple Past - Past Tense Series I

Inhaltswarnung auf der Detailseite beachten!

Prolog

»Haut so weiß wie Schnee, Lippen so rot wie Blut und Haare so schwarz wie Ebenholz …« Ich lese diesen Ausschnitt aus Grimms Märchen Schneewittchen wieder und wieder. Es ist eine nette Geschichte, die ich als Kind öfter gelesen habe. Mein Traum ist Realität geworden, als ich sie das erste Mal sah … oder?

So sollte ich doch empfinden, nicht wahr? Ich sollte in ihr den Inbegriff der Schönheit und der Vollkommenheit sehen. Sie sollte das Erste sein, woran ich morgens denke, und das Letzte, an das ich denke, bevor ich schlafen gehe. In meinen Träumen, und auch wenn ich wach bin, sollte ich ihr nahe sein und sie zu meiner Frau machen wollen.

Die Prinzessin gehört zu einem Prinzen. So war es doch gedacht – genau so sollte es sein.

Was aber, wenn es sich so verdammt falsch anfühlt? Scheiß auf die Prinzessin … was, wenn ich den verdammten Prinzen in meinem Bett haben will? Ihn mit Rapunzels Haaren daran fesseln und seinen Körper mit der Zunge erkunden will? Mit den Fingern durch die goldenen Haare des Teufels fahren, Hans ins Glück küssen und einen Gang Bang mit den Zwergen?

Einfach märchenhaft … es war ein Mal …

Mint

Märchen.

Gut und böse – schwarz und weiß – oben und unten.

Es gibt nichts dazwischen, oder Lou? Für dich ist es eindeutig: Ich bin das ultimative Böse. Der Teufel, der dir gegenübersteht. Aber wieso lässt du den Feind immer noch in dein Bett? Weil das der eigentliche Sinn eines Märchens ist. Wenn du das bisher nicht verstanden hast, hast du nicht aufgepasst, Baby.

Märchen, nicht der verweichlichte, zuckerwattesüße Mist, den wir Kindern heute erzählen, sondern die ursprünglichen Versionen, sind dunkel und gefährlich. Sie sind beängstigend und ziehen uns in ihren Bann. Ja, Lou, sie tun weh – sehr sogar, aber deshalb lieben wir sie auch so sehr, oder?

Genau deshalb willst du mich, weil ich dir keine Wahl lasse. Du kommst nicht gegen mich an – gegen uns. Auch ich kann mich nicht gegen uns wehren – aber das müssen wir.

Kämpferisch, wie ich dich kenne, wehrst du dich gegen uns. Weil du fühlst, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Und du hast recht damit. Es endet, Lou. Ich kann die Schlinge um meinen Hals schon fühlen. Spürst du es auch?

Ich betrachte dein friedliches Gesicht, während du neben mir im Bett schläfst und dein perfekter Körper sich an meinen schmiegt. So wie jede Nacht, wenn ich es wieder geschafft habe, dich zu überreden.

Du sollst nicht wissen, was auf dich zukommt. Ich habe immer gewollt, dass du ohne Sorge bist.

Du weißt das jetzt noch nicht. Ich kann praktisch fühlen, wie sehr du mich hasst. Du willst nicht hier sein, aber du kommst auch nicht dagegen an – gegen uns. Ich spüre deinen Zwiespalt und kann es nachempfinden. Du solltest nicht hier sein, bei mir.

Deshalb tue ich, was ich tue, Lou – für dich. Nicht mehr lange und wir werden endlich frei sein. Nur nicht zusammen – wir werden frei voneinander sein.

Ich streiche mit der Hand über deine weiche Haut und werde sofort hart. So ist es immer zwischen uns gewesen, Baby. Wir sind wie zwei Magneten, die einander anziehen. All die Dinge, die wir einander angetan haben, und trotzdem liegen wir hier zusammen im Bett.

Weißt du, was du mir antust, Lou?

Ich muss dich loslassen, um Deinetwillen. Du verdienst es, endlich frei zu sein.

»Kannst du nicht schlafen, Mint?«, fragst du.

Ich habe nicht mal gemerkt, dass du wach geworden bist.

»Nicht, wenn du so aussiehst«, raune ich dir zu.

Du lächelst mich an und ich habe das Gefühl, dass mein Herz explodiert. Ich wollte immer der Grund sein, wieso du lächelst.

Du streichst mit der Hand über die Haare auf meiner Brust. Das hast du immer schon geliebt. Schon zu einer Zeit, als auf meiner Brust nur ein kleiner Flaum gewesen ist. So lange lieben wir uns schon, Lou.

Du legst deine Lippen auf meine und umfasst meine Härte mit festem Griff. Das habe ich schon immer geliebt. Du weißt genau, was ich gerade brauche.

Ich kann nicht ohne dich leben. Aber du wirst lernen müssen, ohne mich zu leben, Baby. Ich würde dir gerne sagen, wie sehr ich dich liebe. Aber es geht nicht. Du darfst es nicht hören. Du sollst nicht wissen, wie es in mir aussieht. Denn auch du würdest alles für mich tun, wenn du wüsstest, dass ich gelogen habe. Eine Lüge, damit du gehst und wieder lüge ich, damit du für den Moment bei mir bleibst.

Du küsst dich an meiner Brust herab, bis hinunter zu meiner Härte und nimmst sie tief in deinen Mund. Das hast du auch schon immer geliebt, oder Lou?

Ich weiß noch, wie aufgeregt du warst, als du mich zum ersten Mal im Mund hattest. Du wusstest nicht, was du tust. Es war alles neu für dich. Jetzt bist du ein Profi in allem, was wir miteinander erleben. Ich fühle mich geehrt, dass ich dein Lehrer sein durfte, auch wenn bald jemand anderes in den Genuss deiner Künste kommen wird.

Ich kralle meine Hände in deine Haare und presse dich fester an mich. Du würgst an mir, gibst aber bereitwillig nach und nimmst mich tiefer auf. Das habe ich immer schon an dir geliebt – ich habe dich schon immer geliebt. Selbst als ich dich nicht kannte, habe ich nur auf dich gewartet und dann bist du mit einem Minzeis in mein Leben spaziert …

Ich sitze allein in einer Eisdiele. Auch wenn ich sonst nicht viel kann, allein sein konnte ich schon immer gut. Gedankenverloren löffele ich in meinem Eisbecher: Minze, mein Lieblingseis.  

Die Klingel über der Tür der Eisdiele schreckt mich auf.

Ich verschlucke mich, als ich dich zum ersten Mal sehe. Heilige Scheiße, wer bist du denn?

Du bist mit Abstand das schönste Wesen, das ich je gesehen habe – durch und durch perfekt, wunderschön, makellos, atemberaubend …

Meine Gedanken überschlagen sich und mein Magen krampft sich zusammen. Ich sollte nicht so denken und schon gar nicht so fühlen. Was ist das? Habe ich schon jemals so etwas gespürt?

 Du siehst mich nicht an, als du mit deiner Freundin zur Theke gehst und dir ein Minzeis bestellst.

Ernsthaft? Du magst Minzeis? Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte dir zugerufen, dass wir Seelenverwandte sind. Aber ich bin auch so schon ein seltsamer Sonderling ohne Freunde.

Du gehst an meinem Tisch vorbei und siehst mich zum ersten Mal an. Als sich unsere Blicke treffen, bleibst du wie erstarrt stehen. Fühlst du das Gleiche wie ich?

Ich lächele und du erwiderst es. Das ist das Schönste, das ich je gesehen habe, und ich habe augenblicklich das Gefühl, als hättest du mir in die Magengrube geschlagen. Ich unterdrücke den Impuls, zusammenzuzucken. Was machst du mit mir?

Du setzt dich in Bewegung und kommst zu mir an den Tisch …

… Und hier sind wir. Das hätte auch anders ausgehen können. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wärst du einfach weitergegangen.

Wir sind Seelenverwandte, Lou. Ich liebe Minze und dich. Du liebst Minze und mich. Ich weiß es, auch wenn du es nicht sagst. So ist es besser. Ich darf nicht hören, wie sehr du mich liebst.

In deinen Mund komme ich zum Orgasmus und wünschte, es könnte für immer so sein. Aber das wird es nicht.

Ach, wie gut, dass niemand, einschließlich dir, weiß, wie sehr ich dich liebe …

Wyatt

Mit den Fingern streiche ich über die Erhebungen auf dem Foto. Es ist kaum noch zu erkennen, so oft habe ich es zerknüllt. Ich wollte es wegschmeißen – hunderte Male und doch konnte ich es nicht. Auch jetzt kann ich es nicht.

Seufzend zerknülle ich es wieder und werfe es an die Wand in meinem Schlafzimmer. Ich sehe dabei zu, wie es auf den Boden fällt. Wie ein Mahnmal liegt das Foto dort, um mich daran zu erinnern, wie schwach ich bin – nicht stark genug, ein einfaches Bild in den Mülleimer zu werfen. Dabei ist es nicht mal besonders schön. Nein, es sieht hässlich aus und widert mich an. Ich sollte es wegschmeißen. Ja, das sollte ich – jetzt gleich.

Stattdessen bleibe ich im Bett liegen und starre vorwurfsvoll auf das Foto auf dem Boden, weil es sich nicht selbst in den Müll wirft.

»Soll ich es wegschmeißen?« Elizabeth Walker kommt nur in meinen Boxershorts und einem Top bekleidet in mein Schlafzimmer und bückt sich, um das Bild aufzuheben.

»Nein!«, rufe ich – zu schnell und zu laut.

Seufzend erhebt sich Lizzy wieder und sieht mich säuerlich an. Ihr schwarzes Haar ist zu einem unordentlichen Zopf zusammengebunden und ihre eisblauen Augen mustern mich.

»Lass es einfach liegen«, sage ich und erhebe mich aus dem Bett. Als würde mich das Foto anspringen, gehe ich vorsichtig daran vorbei, verschwinde im Badezimmer und lasse meine beste Freundin einfach stehen.

Meine beste Freundin …

Seit zwanzig Jahren ist sie das schon. Sie ist meine engste Vertraute und meine Familie.

Wir lernten uns mit sieben Jahren kennen, als noch alles hell und voller Sonnenschein war, zumindest für sie. Lizzy brachte das Licht erst in mein Leben, als unsere Väter sich zu Geschäftspartnern zusammenschlossen. Von da an gab es uns nur noch zusammen.

Wir waren gerade volljährig und im letzten Collegejahr, da starben unsere Eltern. Von einem Tag auf den anderen verloren wir unsere Familien. Jeder Tag war seither eine Qual für sie, während ich immer mehr aufblühte.

Mit dem Tod meiner Eltern starben meine Monster, während bei Lizzy neue einzogen. Ich war für sie da und am liebsten hätte sie sich in mir verkrochen, um Schutz vor den Monstern unter ihrem Bett zu finden. Nur waren sie nicht bloß dort. Sie waren real – immer da, darauf lauernd, ihr noch mehr zu nehmen, als ohnehin schon. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, schützend an ihrer Seite zu stehen und ihr Trost zu spenden. Das war weit mehr, als ich in meinem Leben hatte, bevor ich sie kennenlernte.

Schnell springe ich unter die Dusche und streife mir anschließend eine Boxershorts über meinen noch feuchten Körper.

Das Foto auf dem Boden ignorierend, gehe ich in die Küche. Lizzy trägt gerade Tüten, bepackt mit Lebensmitteln, herein. Auf den ersten Blick erkenne ich mein Lieblingsmüsli und nehme es kommentarlos aus der Tüte.

»Wenigstens sorgt er dafür, dass du isst«, bemerkt Lizzy. Ihre eisblauen Augen funkeln.

Ob ich mich je daran gewöhnen werde?

Egal, wie lange wir uns kennen, diese Augen faszinieren mich, aber gleichzeitig erschrecken sie mich auch. Es ist so viel Kälte darin, aber wenn man ganz genau hinsieht, kann man auch das Feuer in ihr erkennen. Das Feuer, das alles um uns herum verbrennen wird, wenn ich es nicht in Schach halte.

Ich fülle etwas Müsli in eine Schüssel und Lizzy holt Milch aus der Tüte, obwohl ich schon begonnen habe, es trocken zu essen. Trotzdem füllt sie Milch in die Schüssel.

Als mein Handy im Schlafzimmer zu klingeln beginnt, ignoriere ich es und löffele grummelnd mein Müsli.

Lizzy seufzt, geht ins Schlafzimmer und kommt mit meinem Handy wieder. Sie hält es mir hin, aber ich schüttele den Kopf.

»Es ist Jesse«, sagt sie.

Ich nehme den Anruf entgegen. »Wie oft will er dich noch vorschicken?«, frage ich, ohne ihn zu begrüßen.

»Das müsste er nicht, wenn du ihn nicht ignorieren würdest«, entgegnet Jesse anklagend. »Sind die Einkäufe angekommen?«

»Ich werde nicht verhungern«, antworte ich, ohne zu antworten.

Einen Moment herrscht Stille und ich denke, er hat aufgelegt, aber schließlich höre ich ihn stöhnen. »Pete wird nicht aufgeben … das weißt du doch.«

Ich antworte nicht, weil ich nicht weiß, was. Natürlich wird er nicht aufgeben, aber ich. Ich habe aufgegeben, mich selbst aufzugeben.

»Er versucht es, Wyatt«, redet Jesse weiter auf mich ein, wie der beste Freund, der er für Pete ist. »Du musst ihm verzeihen und ihm noch eine Chance geben.«

»Ich muss gar nichts«, brumme ich und schiebe mein Müsli mit dem Löffel hin und her. »Er hat auch nie um Vergebung gebeten.«

»Das ist seine Art, sich zu entschuldigen«, sagt Jesse.

»Ist sonst noch was?«, frage ich und würge das Gespräch damit ab.

»Nein …« Jesse seufzt. »Ich lasse dich nicht in Ruhe, bis du nachgibst und er auch nicht.«

»Viel Glück.« Ich beende das Gespräch, ohne mich zu verabschieden, und werfe mein Handy auf den Küchentresen.

Lizzy schüttelt den Kopf und ich kann ihr ansehen, dass sie auch keine Lust mehr auf Petes Drama hat. Wieso kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Wieso versteht er nicht, dass er seine Chance bekommen hat? Es ist vorbei – endgültig.

Ich habe Wichtigeres zu tun, was deutlich wird, als Lizzy einen prüfenden Blick auf das Flipchart wirft, das in der Küche steht: »Morgen sind wir am Zug.«

Ich habe aufgegeben, zu versuchen, sie umzustimmen. Sie weiß, dass ich einen Abschluss wollte – ein Ende. Aber für sie gibt es kein Ende, ehe sie nicht bekommt, was sie will.

Und ich? Ich bin an ihrer Seite – eher vor ihr, damit ich schnell die Seiten wechseln kann. Es ist nicht sie, die Schutz benötigt, und es ist meine Aufgabe, die versengende Hitze, die Lizzy ist, einzudämmen.

Mint

Das Wasser prasselt gegen die Fensterscheibe. Das schränkt seine Sicht deutlich ein, aber es ist ohnehin immer wieder das Gleiche, was er zu sehen bekommt. Er denkt, in dem Nobelviertel Gleam würde er in seinem todschicken Anzug weniger Aufmerksamkeit erregen. Aber mir entgeht nichts, oder Lou?

Es sollte langsam langweilig werden, weil er täglich das gleiche Bild zu Gesicht bekommt. Wie ein Rätsel ist es für ihn, an dem er schon sehr lange arbeitet und doch die Lösung nicht findet.

Es gibt so vieles, das er nicht weiß – so vieles, das er nicht versteht. Genau wie du, Lou. Und wie dieses Haus. Wobei es kein Haus ist. Es ist so groß, dass es selbst in Gleam bekannt ist und von allen nur das Miller-Anwesen genannt wird.

Ich könnte mir vorstellen, dass ihm die Bezeichnung Schloss in den Sinn kommt, so wie er das Anwesen betrachtet, obwohl dem armen Jungen niemand je ein Märchen vorgelesen hat. Nicht mal in seiner Fantasie kennt er solche magischen Geschichten. Ist das nicht traurig, Lou?

Ich wünschte, ich könnte ihn hereinlassen und ihm zeigen, was ihm verwehrt wurde, aber es geht nicht.

Wieso? Weil hier kein König lebt. Schon seit sechs Jahren ist dieses Schloss unbewohnt. Niemand geht hinein und auch nie kommt jemand heraus. Na ja, nicht ganz. Einmal die Woche kommt eine Reinigungskraft vorbei. Und nun fragt Wyatt sich, was eine Haushaltshilfe in einem unbewohnten Schloss macht?

Wenn er wüsste, … wenn du wüsstest, Lou.

Auch wenn hier niemand lebt, stehen trotzdem zwei schwer bewaffnete Männer vor dem Schloss. Und wieder fragt er sich, wieso ein privater Sicherheitsdienst das Anwesen bewacht, wenn es nicht bewohnt wird?

Fragen über Fragen, auf die er keine Antwort hat und es ist besser so, Lou.

Er wirft noch einen Blick auf den massiven Zaun, der sich vor ihm um das Gelände erstreckt. Die Sicherheitsleute winken ihm fröhlich zu, als er sein Auto wendet und die von Bäumen gesäumte Schotterstraße, die zum Schloss führt, wieder zurückfährt. Sie können ihn durch die mittlerweile beschlagene Scheibe nicht sehen. Aber die Männer wissen trotzdem, wer er ist. Sie kennen ihn schon. Wyatt hat auch schon versucht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, aber sie geben ihm keine Auskunft. Auch die Haushaltshilfe spricht nicht mit ihm – auf meine Anweisung hin.

Alle Möglichkeiten, in dieses Schloss zu gelangen, ist er durchgegangen – legale wie illegale. Seine letzte Idee war, in das Schloss einzubrechen. Aber es wird Tag und Nacht bewacht.

Auch deshalb kommt er so oft vorbei. Er hofft, dass sich eine Lücke auftut. Aber wenngleich er eine Lücke fände, käme er kaum in das Schloss, ohne Aufsehen zu erregen.

Meine Aufmerksamkeit wäre ihm definitiv sicher, weil ich immer alles über alles weiß und meine Augen überall habe. Auch dadurch erweckt das Miller-Anwesen den Anschein eines Geisterhauses und übt deshalb eine Faszination auf diejenigen Menschen aus, die an Übernatürliches glauben – allen voran Kinder. Sie erzählen sich, hier würden die Geister der Familie Miller ihr Unwesen treiben, dabei treibe nur ich mein Unwesen hier, wie der Junge, der auszog, um das Fürchten zu lernen … aber das habe ich schon.

Ja, Lou, ich habe Angst, wie ein ganz normaler Mensch, du würdest dich wundern. Ich mache mir in die Hose bei dem Gedanken, das Wichtigste in meinem Leben zu verlieren: meine Familie.

Die Menschen glauben, die Familie Miller sei verflucht und ganz Unrecht haben sie damit nicht. Das Schloss müsste gerammelt voll mit Geistern sein, weil kaum eine andere Familie so viele Tote verzeichnet wie diese. Es ist ein Glücksfall, wenn einer von ihnen seinen fünfzigsten Geburtstag erlebt.

Wyatt und seine Komplizin wollen allerdings nur ein Familienmitglied finden, weil sie glauben, ohne ihn nicht in das Schloss zu kommen. Und sie denken, nur dort drinnen überhaupt eine Chance zu haben, dieses besagte Familienmitglied zu finden – eine Patt-Situation. Aber damit kennen wir uns aus, oder Lou?

Jeden Tag kommt Wyatt vorbei und hofft, eine andere Situation vorzufinden. Ein Sicherheitsmann wird etwa plötzlich krank und der andere muss ihn zum Arzt bringen. Er hat sogar schon überlegt, dafür zu sorgen, dass einer von ihnen krank wird.

Er versucht alles, um nicht erledigen zu müssen, was seine beste Freundin Elizabeth Walker von ihm will. Denn er hat ein Herz, im Gegensatz zu ihr.

Die Spezialität dieser boshaften Hexe ist es, Menschen wie ihre Marionetten tanzen zu lassen. Wyatts Leben gleicht einem Ballett und mittendrin dreht er seine Pirouetten, obwohl ihm schon ganz schwindelig ist. Er muss sich übergeben und ihm tun die Füße weh.

Niemand kann das besser verstehen als ich. Du zwingst mich genauso mitzutanzen, Lou. Anhalten wäre die beste Option. Aber daraus wird nichts. Die Show muss immer weitergehen. Niemals wird die Musik aufhören – niemals werden wir langsamer. Für uns ist keine Pause vorgesehen, nicht wahr, Lou?

Avery

»Wo bist du, verdammt?«

»Unterwegs.« Atemlos halte ich das Handy an mein Ohr und laufe so schnell ich kann. Ich habe damit gerechnet und bin vorbereitet, dennoch ist es beängstigend.  

»Du hattest nur einen Job!«, tadelt er mich immer weiter, aber er hat allen Grund wütend zu sein. Ich hätte pünktlich sein müssen und das wollte ich auch. Aber hat er eine Ahnung, wie anstrengend es ist, alleinerziehend und Vollzeit berufstätig zu sein?

Nein, natürlich weiß er das nicht. Das hat er nie gewusst. Er wurde mit einem goldenen Löffel im Mund geboren und hat sich nie um etwas oder jemanden gekümmert, weil ich das für ihn übernommen habe.

Eine Ausnahme hat es für ihn aber schon immer gegeben – eine Sache, um die er sich kümmert. Diese eine Sache, die ihm immer schon mehr als alles andere auf der Welt bedeutet hat.

»Ich kann nicht mehr«, keucht Aiden hinter mir, aber ich ziehe ihn weiter am Arm hinter mir her.

»Hast du Aiden etwa mitgenommen?« Seine Stimme nimmt einen bedrohlich leisen Ton an.

Wenn er noch laut ist, ist alles im Rahmen, erst wenn er leise wird, sollte ich mich fürchten.

»Kinder sind ihre Schwäche«, rede ich mich heraus.

Sie werden in die wunderschönen, grünen Augen meines kleinen Bruders sehen und all ihre Mordpläne aufgeben und wenn nicht … na ja, ich werde sie dazu zwingen. Ich würde nie zulassen, dass Anson oder Aiden etwas passiert.

»Ist dir Anson etwa egal?«, fragt er, obwohl er die Antwort längst kennt.

»Es läuft alles nach Plan«, gebe ich zurück, beeile mich aber trotzdem. Einen Zehnjährigen mitzuschleppen, bremst mich allerdings sehr aus.

»Erledige deinen Job, Junge!«, befiehlt er, als würde ich gerade nicht genau das tun.

Zusammen mit Aiden renne ich in das Gebäude, vorbei an der Empfangsdame und erwische Anson in der Teeküche.

»Hey.« Freudestrahlend begrüßt mich mein Bruder. Er zieht mich an sich und küsst mich auf die Wange. Anschließend knuddelt er unseren Bruder Aiden und streicht ihm durch das blonde Haar.

Von dem Haar mal abgesehen, kommt Aiden mit den schönen, grünen Augen nach der Miller-Familie. Ich hingegen gar nicht. Meine Augen sind auffallend grau-blau und ich bin, genau wie Aiden blond.

Mich hat der Esel aus den Bremer Stadtmusikanten im Galopp verloren …

Das hat zumindest mein Vater immer behauptet.

Aiden zupft an meinem Ärmel. »Ich will einen Lutscher.«

»Wie heißt das?«, frage ich.

»Bitte«, fügt er hinzu.

Ich krame in meiner Hosentasche, reiche ihm einen Kirschlutscher und schiebe mir auch einen in den Mund.

Anson rollt mit den Augen, weil er meine Sucht nach dem Süßkram, wie er es nennt, noch nie verstanden hat. Ich schiebe den Lutscher in meine Backentasche, grinse und werfe einen Blick auf das Tablett, das Anson gerade mit Tassen bestückt. »Pack noch welche dazu, wir bleiben hier.«

»Hm?«, fragt er und sieht mich mit seinen großen, grünen Augen an.

Ich umfasse sein Gesicht. »Noch einmal ganz langsam … Hast du mir nicht zugehört?«

»Ach so, das.« Anson löst sich von mir und winkt ab, als wäre es keine große Sache. »Wollt ihr wirklich bei meinem nächsten Termin dabei sein?«

»Es ist ein Schülerpraktikum«, schalte ich schnell und Aiden sieht mich fragend an. Ich ziehe ihn an mich. »Dein kleiner Bruder soll sich anschauen, wie ein erfolgreicher Immobilienmakler arbeitet.«

Ansons Gesicht hellt sich auf, wegen des Kompliments, und ich bekomme direkt noch einen kleinen Kuss auf die Wange. »Ich liebe dich, das weißt du, oder?«

»Ja, ich weiß.« Ich grinse und die Hitze schießt mir in die Wangen. Die eine Seite kribbelt noch von Ansons Berührung.

Ich kann meinem großen Bruder blind vertrauen. Er ist der zuverlässigste Mensch, den es gibt und macht zudem, was ich ihm sage. Das muss er auch, davon hängt sein verdammtes Leben ab.

Ich bin kein Idiot und weiß genau, wieso sie kommen. Elizabeth Walkers umwerfende Schönheit kann einen leicht irreführen, ich habe das selbst erlebt. Mich wird sie allerdings nicht täuschen. Ich weiß genau, wen ich vor mir habe und wozu sie fähig ist – eine diabolische Puppenspielerin durch und durch.

Nun muss ich ein Auge auf meinen großen Bruder haben, bevor sie ihre Krallen in ihn schlägt, wobei ich mir gleichzeitig wünsche, dass sie sie in mich schlagen würde. Ich bin ihr gewachsen, mein Bruder ist es nicht. Aber sie haben sich so an dem Namen festgebissen, dass Anson ihre erste Wahl ist, was ich natürlich habe kommen sehen.

Elizabeth ist wahrlich kein Geheimnis für mich. Auch weiß ich, wer ihren Bruder spielt: Wyatt.

Mir ist nicht entgangen, dass auch er ihr völlig verfallen ist. Aber wie könnte es anders sein? Bevor einem Mann aufgeht, wen er vor sich hat, sitzt er auch schon in ihrer Falle – zusammen mit all den anderen Männern. Gemeinsam sitzen sie in der Gefangenschaft und warten auf das Ende.

Bei dem Gedanken daran, Anson könnte auch dort landen, dreht sich mir der Magen um. Ich hätte mich schon vor Jahren, um die beiden kümmern sollen. Aber was nicht ist, kann noch werden …

© Lisa Lee

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