Nichole Watts, genannt Nicky, 25 Jahre alt. Medienpsychologin und Geschäftsführerin von ‚Try Verify“, eine Firma, die Filme und Spiele überprüft und Empfehlungen für Altersfreigaben herausgibt.
Für das neue Spiel ‚Mindgame Roleplay‘ bekommt die Firma Zuwachs: Den Medieninformatiker Max, der der beste Freund von Nickys Exfreund Jesse ist und auch ihr Freund gewesen ist. Bis er vor einem halben Jahr angefangen hat, sie ohne erkennbaren Grund zu ghosten. Steckt mehr dahinter und was hat Jesse mit alldem zu tun?
Jesse Sutton, 25 Jahre alt. Informatiker und Exfreund von Nicky. Trotz der Trennung, hält er sich noch immer in Nickys Nähe auf und hat dafür auch allen Grund:
„Nicky ist der Anker, der meine Welt in den richtigen Bahnen hält. Sie ist das blutige Tuch, dass ich als Ablenkungsmanöver schwenke, um zu schützen, was ich seit Jahren zu schützen versuche. Ein Geheimnis das mir schwer auf der Brust lastet…“
Cas, 39 Jahre alt, ist ein Mysterium, ein Rätsel, das es nicht so leicht zu lösen gilt und möchte vorerst anonym bleiben.
„Ich bin doch kein Stalker, eher ein stiller Beobachter. Das ist das Gleiche!, tadele ich mich selbst. Gut, dann anders: Ich bin so etwas wie ein Schutzengel, der auf Nicky aufpasst. Klingt doch gleich viel besser… Zufrieden nicke ich.“
Tropes
Strong female Main FMC, Stalker, Second Chance, Forbidden Love, Childhood Friends to Lovers, Age Gap, Insta Love
Leseprobe
Prolog
Ich hasse es – ich hasse dich. Ja genau, dich meine ich.
Wie du an der Wand lehnst, wie du aussiehst. Deine Nase, die sich kräuselt, wenn dir langweilig ist und wie du an deiner Unterlippe knabberst, wenn du nachdenkst.
Ich hasse dich – ich hasse alles an dir.
Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich meine Waffe ziehen, sie dir in den Mund schieben und deine Gehirnmasse an der Wand hinter dir verteilen. Ob das Rot schön aussehen würde, wenn es an der grau geklinkerten Wand herabläuft? Was meinst du?
Wenn ich könnte, wie ich wollte? Wenn ich wollte, wie ich könnte? Ich könnte, aber ich will nicht. Nicht mal hier sein, will ich. Ich will dich nicht ansehen.
Lügen… Nichts als Lügen.
Wieso ich mich selbst belüge?
Es gibt da diese Bronzeskulptur. Sie ist wunderschön, sie ist perfekt, makellos, atemberaubend. Sie ist härter als Eisen, korrosionsbeständiger und rostet nicht.
Nichts wollte ich je mehr haben, als diese Bronze. Ich wollte, dass sie mir gehört – Mir allein. Eines Tages stelle ich plötzlich fest, dass es der Bronze in meinem Umfeld nicht gut geht. Sie weist eine Art Korrosion auf, die als Bronzeseuche bekannt ist. Jeder Versuch der Oberflächenbehandlung scheiterte und ich kam zu dem Schluss, dass ich sie nicht haben kann, wenn ich will, dass es ihr gut geht.
Statt dass ich nun in der Ecke liege und heule, weil die Bronze nie mir gehören wird, rede ich mir ein, dass ich sie hasse. Das, ich sie nicht ansehen will, dass ich nicht hier sein will.
Genau genommen, ist es nicht mal gelogen, dass ich dich hasse. Ich hasse dich, weil du mich hasst. Ich hasse dich, weil du nicht weißt, wie sehr ich leide. Ich hasse dich, weil du nicht weißt, wie sehr du mir den Kopf verdreht hast und weil du nicht weißt, was wirklich in mir vorgeht.
Mein Blick gleitet erneut über dich und ich werde direkt hart.
Ich hasse dich…
Ich steige aus dem Auto und gehe auf dich zu. Du stößt dich von der Wand ab, als du mich bemerkst. Ich erkenne an deinem Gesichtsausdruck, dass du mich genauso sehr hasst, wie ich mir vormache, dich zu hassen.
Ja, du hast recht: Wir sollten nicht hier sein. Wenn du nicht meine Bronze sein kannst, sollte ich dich einfach gehen lassen, aber hatte ich erwähnt, dass du mich magnetisch anziehst, obwohl eine Bronze eigentlich nicht magnetisch ist? Du bist es und wirst es immer sein.
Ich kann dich nicht gehen lassen, selbst wenn ich wollte nicht. Ich will dich nicht gehen lassen, selbst wenn ich müsste nicht. Ich muss, aber ich will und kann nicht. Ist das verwirrend? Da siehst du mal, was du mit mir machst.
Cas: „Verwirrt? Willkommen in meiner Welt“
Naturrot, Flammenrot, Mahagonirot. Wie zur Hölle mischt man Erdbeerblond? Ich mische etwas mehr gelb dazu und bin noch nicht zufrieden. Trotzdem schmiere ich es an die Wand. Es ist unmöglich den korrekten Farbton zu bestimmen. Das Grün ist mir deutlich besser gelungen, aber perfekt ist auch das nicht.
Stirnrunzelnd betrachte ich mein Werk und weiß unter Garantie, dass ich dafür in Einzelhaft landen werde, wie auch schon das letzte Mal, als ich eine Wand bemalt habe. Andere besorgen sich hier drin, Drogen und ich Farben.
Who Cares…
Ich lasse meinen Blick zu den vergitterten Fenstern gleiten und fühle mich sicher. Hier drin erdrückt mich die Nähe zu ihr nicht. Hier drin bin ich vor falschen Entscheidungen sicher und sicher vor ihr. Ich kann einfach den ganzen Tag die farbige Wand anstarren, auch wenn die Farben nicht stimmig sind.
I dont care.
Ich schüttle den Kopf, weil ich mich schon selbst belüge. Mich stört es. Es kümmert mich, dass der Farbton nicht stimmt. Es stört mich, dass ich mir eine Ersatzbefriedigung suchen musste, weil die Nähe zum Original mich erdrückt.
„Cas?“ Ich schaue auf, als Carl in der Tür steht und mich mit gerunzelter Stirn ansieht. Seine braunen Augen durchbohren mich förmlich. „Zockst du etwa?“, fragt er.
Seine große, breite Statur füllt den gesamten Türrahmen aus.
„Das geht dich einen Scheiß an“, zische ich. „Du hast wohl vergessen wo dein Platz ist.“
Ich werfe noch einen Blick auf meine virtuelle Figur in der Gefängniszelle und kehre wieder in die Realität zurück, die mehr Gefängnis für mich ist, als meine Welt in dem Spiel Mindgame Roleplay.
Als ich den Laptop zuklappe, steht Carl immer noch in der Tür.
„Sonst noch was?“, frage ich genervt.
„Wir haben einen Fuchs im Hühnerstall“, berichtet Carl beiläufig und lehnt sich an den Türrahmen.
Ich reiße die Augen auf. „Unmöglich!“
Nichts, absolut gar nichts, läuft ohne, dass ich davon weiß – ohne, dass ich es angeordnet habe.
„Wie kann er es wagen?“, knurre ich, stehe auf, schnappe meine Waffe vom Tisch, die immer griffbereit neben meinem Laptop liegt, falls ich mal spontan jemanden erschießen muss und gehe zur Tür. Ich werfe einen prüfenden Blick in das Magazin und stoße Carl beiseite, damit ich noch durch die Tür passe.
„Ich will fünf sofort zum Abmarsch bereit“, ordne ich an, während Carl mir folgt.
„500?“, fragt er in meinem Rücken.
„Nein, wirklich nur fünf“, gebe ich genervt von mir. „Den Lutscher würdest selbst du schaffen. Fünf die das Gebäude umstellen, falls er fliehen will. Mir fehlt die Zeit und die Lust und ihn zu jagen“, erkläre ich und gehe Carl voran.
Er schnaubt, als wir in die Küche kommen. „Zeit zu zocken, hattest du.“
Ich ignoriere seine Spitze und schnappe mir noch schnell eine Flasche Wasser, bevor wir uns auf den Weg zum Auto machen.
„Was ist mit Jesse?“, fragt Carl, als wir im Auto Platz genommen haben.
„Was soll mit ihm sein?“, harke ich nach und starte den Wagen.
„Er hat dem Fuchs die Tür zum Hühnerstall geöffnet“, erzählt Carl beiläufig, als wäre es keine große Sache.
Ich stelle das Auto aus und sehe meinen Beifahrer entgeistert an. „Jesse… Er wollte das so?“
Carl nickt und ich boxe ihm gegen die Schulter. „Scheiße, wieso hast du das nicht gleich gesagt?“
„Ich dachte, du wüsstest es“, nörgelt er und streicht sich über seine Schulter. „Du bist Cas verdammt. Du weißt immer alles über alles.“
Vielleicht sollte ich in nächster Zeit, weniger zocken und mein Augenmerk auf die Dinge legen, die wirklich wichtig sind. Aber mir ist nur diese eine Sache wichtig und das Spiel hilft mir, zu verhindern, dass ich in der Realität etwas Dummes tue, auch wenn es sich nicht dumm anfühlt. Es fühlt sich richtig an – Virtuell und Real. Kann es dann falsch sein?
Ja, verdammt, das kann es, weshalb ich meinen Fokus in letzter Zeit doch sehr auf das virtuelle Erleben gestützt habe. Wenn ich dort falsche Entscheidungen treffe, landet meine Figur vielleicht im Knast, aber ich nicht. Wobei das die richtige Entscheidung war – Ins Gefängnis zu gehen. Die Alternative hätte so viel mehr Schaden angerichtet. Was ist schon ein Gefängnisaufenthalt, gegen das Schwächen meiner Basis. Was nützt es mir, wenn es am Ende mein Kopf ist, der rollt? Nicht mal virtuell. Alles was ich mir mühsam aufgebaut habe, werde ich in der Realität verlieren, wenn ich jetzt nicht die richtigen Entscheidungen treffe.
Verwirrend? – Willkommen in meiner Welt.
Murrend steige ich aus dem Auto und Carl folgt mir.
„Wir werden das vorerst im Auge behalten“, beantworte ich seine unausgesprochene Frage.
„Damit du weiter zocken kannst?“, harkt Carl amüsiert nach.
Ich drehe mich zu ihm um. „Was soll ich denn tun? Ihn abknallen?“
Jeden verdammten Tag, denke ich darüber nach, es zu tun und doch verzichte ich. Nicht weil ich nicht will, nicht, weil es keinen Grund gebe, obwohl ich den sowieso nicht brauche, sondern weil ich damit einen Weg einschlagen würde, von dem aus es kein Zurück gibt. Es gibt kein rechts und kein links mehr – nur geradeaus – nur diese eine Möglichkeit. Keine Wahl mehr zu haben, engt mich ein und nichts hasse ich mehr als eingeengt zu sein. Aus diesem Grund tue ich nicht, was ich tun sollte – nur aus diesem Grund und nicht etwa, weil mir irgendetwas sonst wichtig ist.
Ganz und gar nicht…
„Endlich das Richtige tun…“, entgegnet Carl scharf.
Das Richtige tun? Als wäre das so leicht. Das Richtige macht sich schließlich nicht bemerkbar – es leuchtet nicht…
Jeden anderen hätte ich dafür einen Kopf kürzer gemacht, aber Carl kommt damit durch. Na ja, auch nicht ganz.
Ich packe ihn am Kragen und ziehe ihn zu mir hin, bis sich unsere Nasenspitzen fast berühren. „Wiederhol das nochmal…“
Carl schluckt laut und schüttelt kaum merklich den Kopf.
Ich lasse ihn los und gehe ihm voran ins Haus.
Noch immer hat er eine Art Sonderstatus bei mir – Welpenschutz, wenn man so will, obwohl er längst schon kein Welpe mehr ist. Ich habe ihn damals persönlich ausgebildet und er ist einer meiner besten Männer geworden. Irgendwie ist er auch ein Freund, auch wenn ich keine Freunde habe, nur Menschen, die sich in meiner Nähe, in die Hosen machen vor Angst. Nicht, dass ich das nicht auch genießen würde, aber es nicht leicht, die Menschen zu durchschauen, wenn es die Angst ist, weshalb sie sich an mich binden. Ich weiß eigentlich nie wem ich trauen kann, deshalb traue ich niemandem wirklich. Vertrauen ist Mist – Kontrolle das einzig Wahre.
Ich habe immer die Kontrolle. Aber diese Sache, die Jesse da angeleiert hat… Mir scheint, der Versuch sein Geheimnis vor mir zu verstecken, lässt ihn dumme Entscheidungen treffen. Er ist in Panik und handelt Unüberlegt. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich nicht dafür auch eine Lösung finden würde…
Nicky: „Leider sind es gerade die Arschlöcher, die erfolgreich sind“
Kaffee. Ich halte den Kopf gesenkt, als ich mich an meinen Kollegen vorbeischlängele und grummele ein ‚Guten Morgen‘, während ich nur ein Ziel vor Augen habe: Die Küche mit meinem Lieblingsgerät – die Kaffeemaschine.
„Ich liebe dich“, seufze ich, als meine Lieblingskollegin Kate mich schon mit einer Tasse Kaffee erwartet.
Kate lacht. „Meinst du mich oder den Kaffee?“
„Euch beide“, antworte ich und atme den beruhigenden Duft meines Lieblingsgetränks ein.
Ich mustere die Kaffeemaschine, die keine mehr ist. Eher ein riesiger Kaffeevollautomat.
„Ist der Neu?“, frage ich.
Kate nickt und grinst. „Ein Geschenk vom Vorstand.“
Noch bevor ich einen Schluck aus meiner Tasse nehmen kann, stürmt mein Kollege Steve in die Küche. „Nicky, da bist du ja.“
Kate schüttelt entschieden den Kopf. „Sie hatte noch keinen Kaffee. Gib ihr fünf Minuten.“
„Die haben wir leider nicht.“ Steve wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. „Sie sind da.“
Überrascht schaue ich auf die Küchenuhr. „Es ist halb acht Uhr morgens. Es ist doch morgens, oder?“
Steve und Kate schauen mich an, als wäre ich nicht ganz dicht, aber ich winke ab. „War nur ein Scherz.“
Ich nehme meinen Kaffee und gehe murrend in mein Büro um meine Unterlagen zu holen.
Da ich eher kein Morgenmensch bin, schlafe ich morgens gerne länger, was aber dazu führt, dass ich keine Zeit mehr habe mir zu Hause einen Kaffee zu kochen und ich bin zu geizig um mir unterwegs einen Kaffee zu holen.
Schlecht gelaunt schleppe ich mich zur Arbeit und sobald ich meinen ersten Kaffee getrunken habe, bin ich eine frohe Frohnatur. Aber vor dem ersten Kaffee? Meine Kollegen wissen, dass sie wichtige Angelegenheiten lieber erst nach dem ersten Kaffee besprechen.
Deshalb habe ich den Termin heute erst auf acht Uhr gelegt. Wer kommt zu einem Termin um acht Uhr eine halbe Stunde zu früh? – Richtig Nerds. Ich weiß, ich sollte sie nicht so nennen, aber ich hatte noch keinen Kaffee und da fällt es mir schwer die korrekte Bezeichnung zu finden. Wie lautet die korrekte Bezeichnung für Menschen, die sich mit Online-Rollenspielen auskennen? Wie wäre es mit RAM? Nennt man so nicht einen Teil vom Computer?
Zumindest arbeiten die RAMs für die Firma RAMAC und testen Spiele. Ich war dagegen mit einer anderen Firma ins Bett zu steigen, wurde aber vom Vorstand überstimmt.
Offenbar reicht es nicht, dass unsere Medienpädagogen ein Spiel bewerten. Nein, wir brauchen unbedingt eine Gruppe von Nerds, die uns auf die Finger gucken. Dabei bin ich Medienpsychologin und Geschäftsführerin von Try Verify. Ganz sicher brauche ich keinen Babysitter.
Wir untersuchen die Wirkung von Medien unterschiedlichster Art auf Kinder und Jugendliche. Unsere Empfehlungen werden als Grundlage für eine Altersbeschränkung bei Filmen und Spielen genommen. Aber es geht diesmal nicht um irgendein Spiel. Als Medienpsychologin weiß ich um die Besonderheit dieses Spiels.
Mindgame Roleplay…
Genau deshalb kann ich den Zusammenschluss von RAMAC und Try Verify für dieses Projekt nicht verurteilen. Es ist gut, wenn wir das Spiel nicht nur wissenschaftlich, sondern auch technisch verstehen und bewerten.
Ich gehe in den Konferenzraum, in dem die RAMs schon auf mich warten und nippe einmal schnell an meinem Kaffee, den ich in der Hand halte.
Als ich meinen Blick hebe und in die Runde der wartenden Männer sehe, zucke ich zusammen und lasse meine Kaffeetasse vor Schreck fallen.
„Nicky, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, bemerkt Steve das Offensichtliche.
Nein, kein Geist. Nur meinen ehemaligen besten Freund Maxwell Hudson, von dem ich seit einem Jahr kein Wort gehört habe, weil er meine Nachrichten ghostet.
Er sitzt am Tisch im Konferenzraum und grinst mich breit an. Sein braunes Haar fällt ihm in die Stirn und seine braunen Augen blitzen auf.
Ich wende meinen Blick von Max ab und beginne die Scherben meiner heruntergefallenen Kaffeetasse aufzusammeln, als Max kommt, um mir zu helfen.
„Kate, könntest du das bitte übernehmen?“, frage ich meine Lieblingskollegin. „Ich muss kurz…“
Ich beende den Satz nicht, erhebe mich und verlasse fluchtartig den Konferenzraum.
Im Büro angekommen, lehne ich mich keuchend an die Tür, bevor ich in meinem Büro auf und ab gehe und versuche wieder zu Atem zu kommen. Plötzlich geht die Tür auf und Max kommt herein. Natürlich ohne anzuklopfen. Max hat es noch nie geschafft anzuklopfen.
„Nicky“, beginnt er, aber ich stoppe ihn direkt. „Ich arbeite seit fünf Jahren bei Try Verify. Du warst dabei, als ich damals als Geschäftsführerin eingestellt wurde. Was machst du hier, wo du doch weißt, dass ich hier arbeite?“
„Ja, ich wusste es“, gibt Max zu. „Aber Nicky, du musst das verstehen. Das ist eine große Chance für mich. Ich bin seit einem Jahr bei RAMAC und dieses Projekt könnte mir eine Führungsposition einbringen. Man hat mir die Leitung übertragen, damit ich zeigen kann, was in mir steckt.“
„Ich habe die Leitung“, korrigiere ich Max. „Und ich entscheide auch, mit welcher Firma wir ins Bett steigen. Glaubst du echt, ich würde dich wählen?“
Ich setze mich demonstrativ in meinen Chefsessel und lasse Max nicht aus den Augen.
„Ich dachte nicht, dass du so rachsüchtig bist.“ Max schüttelt den Kopf.
„Und ich dachte nicht, dass du ein feiges Arschloch bist, der eine enge Freundschaft einfach mit ghosting beendet“, schieße ich zurück.
Max hebt resigniert die Hände. „Ich dachte, du würdest es schaffen, dich wie eine Erwachsene zu benehmen, aber bitte, wie du willst.“
Verhalte ich mich kindisch? Objektiv bewertet schon irgendwie. Ich war immer stolz darauf mein Privatleben von meinem beruflichen Umfeld zu trennen, wieso höre ich jetzt damit auf? Max ist immer gut in seinem Job gewesen und aus unternehmerischer Sicht, wäre es nicht sehr klug ihn abzulehnen, nur weil er privat ein Arschloch ist. Ich habe jeden Tag mit Arschlöchern zu tun. Leider sind es gerade die Arschlöcher, die erfolgreich sind.
Max wendet sich zum Gehen, aber ich halte ihn zurück. „Ich sehe mir die Zusammenarbeit objektiv an…“
„Danke.“ Mein ehemaliger bester Freund nickt mir zu, bevor er mein Büro verlässt.
Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und atme tief durch. Nie hätte ich gedacht, dass ich ihn je wiedersehen würde. Nicht nachdem ich über einen Monat hinweg vergeblich versucht habe, Max zu erreichen. Keinen meiner Anrufe oder Nachrichten hat er beantwortet. Nur der ‚zuletzt Online‘ Hinweis, hat mir mitgeteilt, dass er nicht tot ist, sondern einfach keinen Kontakt mehr möchte – von einem Tag auf den anderen. An einem Tag waren wir noch beste Freunde, die gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen sind und nur einen Tag später, waren wir plötzlich Fremde.
Ich habe vergeblich versucht, das Gespräch zu suchen, um zu verstehen, was passiert ist, was ich falsch gemacht haben könnte, dass ich nicht mal einen richtigen Abschied bekommen habe. Aber Max hat jedes Gespräch abgeblockt – persönlich, telefonisch, oder schriftlich.
Jesse: „Längst schon fließt das Blut ungehindert aus mir heraus“
Mindgame Roleplay… Ich habe es genau gesehen, obwohl Cas den Laptop schnell zugeklappt hat, als ich zur Tür hereinkam.
„Du zockst?“, frage ich.
„Recherche“, Cas lehnt sich in dem Chefsessel zurück und sieht mich unschuldig an. Aber ich weiß genau wen ich vor mir habe.
So ruhig wie möglich setze ich mich gegenüber an den Tisch, obwohl in mir alles brodelt. Jedoch ist es nie gut, meine Schwäche zu offenbaren. Früher habe ich es zu oft getan, da ich zu lange gebraucht habe zu erkennen, dass Cas wie ein Hai ist, der die Schwäche eines Menschen riechen kann, als wäre es Blut.
„Lass es gut sein, Cas“, fordere ich trotzdem. Längst schon fließt das Blut ungehindert aus mir heraus ich kann nur hoffen, dass der Hai sich nicht darauf stürzt.
Cas beugt sich nach vorne und faltet die Hände auf dem Schreibtisch.
Es ist totenstill im Raum und trotzdem spüre ich, wie mich der Hai umkreist.
Allein, dass Cas sich das verdammte Spiel anschaut, sagt mir, dass ich den Scheinwerfer auf einen Bereich meines Lebens gelockt habe, den ich um jeden Preis verbergen muss.
Aber im Augenblick tröste ich mich damit, dass die falsche Richtung im Fokus steht. Am liebsten würde ich mit einem blutigen Tuch herumwedeln, um die Aufmerksamkeit zu halten. Denn würde Cas in die andere Richtung schauen… Daran will ich gar nicht denken. Ich habe getan, was ich tun konnte, um meine Deckung oben zu halten. Wie im Todeskampf drücke ich die Hand auf die blutende Wunde und hoffe, dass der Hai sie nicht bemerkt.
„Wann lerne ich deine kleine Freundin kennen?“, fragt Cas plötzlich und ich bemühe mich nicht erleichtert aufzuatmen.
Gut so, sieh weiter in die falsche Richtung.
„Sie ist nicht mehr meine Freundin“, antworte ich. „Wir haben uns vor anderthalb Jahren getrennt.“
„Ist das so, ja?“
„Ja, sie kann tun und lassen was sie will“, antworte ich, obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt.
„Erklär mir eine Sache, Jesse“, beginnt Cas und lässt mich nicht aus den Augen. Noch immer liegen die Hände gefaltet auf dem Tisch, was trügerische Sicherheit vermittelt. „Wieso stellst du dem Mädchen dann immer noch nach?“
„Und du?“, frage ich ausweichend, obwohl ich weiß, dass Cas das nur tut, weil ich nicht von ihr lassen kann. Sie ist der Anker, der meine Welt in den richtigen Bahnen hält. Ohne sie, würde alles was ich mühsam aufgebaut habe, in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus. Ohne sie würde Cas in die richtige Richtung schauen und erkennen, was ich dort verstecke.
Cas antwortet nicht, aber das ist auch nicht nötig. Ich weiß, wieso Nicky im Fokus steht. Sie ist das blutige Tuch, dass ich als Ablenkungsmanöver schwenke, um zu schützen, was ich seit Jahren zu schützen versuche. Ein Geheimnis das mir schwer auf der Brust lastet, von dem Cas aber unter keinen Umständen erfahren darf. Ein Geheimnis was zu verstecken immer schwerer wird, je mehr die Scheinwerfer auf mich gerichtet sind.
Keines der anderen Ablenkungsmanöver war auch nur im Entferntesten von Interesse. Das Augenmerk liegt auf Nicky, weil es dort mehr zu wissen gibt und Cas weiß das.
Wie lange kann ich mein Geheimnis noch bewahren?
„Stört es dich kein bisschen, dass dein bester Freund in deinem Revier wildert?“, fragt Cas.
Ich balle die Hände zu Fäusten und zucke ich mit den Schultern. „Wie gesagt, sie kann tun, was sie will.“
„Ich habe nicht von Nicky gesprochen“, entgegnet Cas, was ich natürlich weiß.
„Dasselbe gilt für Max“, antworte ich.
Aufmerksam beobachtet Cas mich, nimmt die Hände vom Tisch und lehnt sich seufzend zurück.
Der Hai umkreist mich immer noch, schießt aber nur in Blaue, um mich aus der Reserve zu locken.
Ich spiele das Spiel schon zu lange und zu gut, als dass ich mir so leicht in die Karten schauen lasse.
Das Klingeln meines Handys rettet mich aus Cas‘ schweigender Musterung.
Ich werfe einen Blick auf mein Handy und erkenne, dass es Max ist, der mich anruft. „Ich muss los. Bis dann, Cas.“ Ich winke kurz und verschwinde aus dem Büro.
„Wie ist es gelaufen?“, frage ich, als ich den Anruf entgegen nehme, obwohl ich die Antwort längst kenne.
„Es läuft alles nach Plan“, entgegnet Max genervt.
Natürlich tut es das. Ich habe alles unter Kontrolle. Noch… Wer weiß wie lange noch?
„War’s das dann?“, fragt Max in die Stille hinein. Ich kann seine Wut deutlich durch das Telefon spüren.
„Du hast mich angerufen“, antworte ich amüsiert und gehe vorbei an den schwer bewaffneten Männern, die sich in jedem Winkel dieses Hauses tummeln, bevor ich es endlich nach draußen schaffe, um so viel Abstand zwischen mich und Cas zu bringen, wie möglich.
„Weil du mich dazu zwingst“, informiert Max mich über das Offensichtliche.
„Na ja, zwingen klingt ganz schön hart“, gebe ich von mir.
„Leck mich, Jess“, zischt Max und beendet das Telefonat.
Grinsend steige ich in mein Auto. Es sollte mich nicht begeistern, aber das tut es – sehr sogar.
Im Studium hatten wir eine Vorlesung über Moral und schon damals haben mich Dilemmata fasziniert.
Besonders Eines hat mich mehr und mehr beschäftigt: Ein Vater kann sich die Medikamente für den kranken Sohn nicht leisten und stiehlt sie, aus der Apotheke. Sollte er dafür bestraft werden? Die Meisten Menschen würden wohl nein sagen. Was aber wenn der Apotheker die Einnahmen gebraucht hat, um seinem eigenen Kind eine Krebstherapie bezahlen zu können. Zwei Väter, die alles tun, um ihre Lieben zu beschützen. Was ist richtig, was falsch?
An dieser Stelle wissen viele Menschen nicht weiter, aber nicht ich. Ich weiß genau, dass es richtig das schützen, was ich liebe, auch wenn es Opfer kostet. Gleich welche Opfer es auch kosten mag, ich nehme sie alle in Kauf.
Nicky: „Ich nehme alles, damit sich das Spiel verbieten lässt“
„Gut, fangen wir an.“ Ich stürme in den Konferenzraum und setze mich an den großen Tisch, direkt gegenüber von Max.
Kate schiebt mir eine Tasse Kaffee über den Tisch zu. Dankbar lächele ich, obwohl ich schon jetzt weiß, dass dieser Kaffee nicht dazu beitragen wird, meine Laune zu heben.
Ich sehe in die Runde. „Für alle die mich nicht kennen, ich bin Nichole Watts, Geschäftsführerin von Try Verify. Als Medienpsychologin werde ich auch dieses Projekt leiten.“
Ich deute auf meine Kollegen. „Das sind unsere Medienpädagogen: Kate Willis und Steve Baker.“
Ich sehe Max abwartend an und er nickt. „Max. Ich bin Medieninformatiker.“ Er hebt die Hand und winkt kurz, bevor er auf seine Kollegen deutet. „Ben ist Gamedesigner. Mike ist Computerspielwissenschaftler und Phil ist Spielejournalist.“
Ben, Mike und Phil heben eine Hand und winken, als ihre Namen genannt werden.
„Das sind Spitznamen“, erklärt Max. „Wir halten uns ungern mit längeren Namen auf, Nichole.“
„Wir nennen sie alle Nicky“, kichert Kate. „Aber Kate und Steve sind doch kurz genug oder?“
Max lässt eine Reihe strahlend weißer Zähne aufblitzen, als er Kate anlächelt. Sie wird rot und ich rolle mit den Augen.
„Wie ihr ja wisst, geht es um das kontroverse Spiel Mindgame Roleplay, erkläre ich und sehe in meine Unterlagen. „Release war im Mai. In nur zwei Monaten hat sich das Spiel wie ein Lauffeuer verbreitet.“
Ich mache eine kurze Pause, bevor ich weiter fortfahre. „Die Entertainment Software Rating Board, besser bekannt als ESRB, hat das Spiel auf unsere Empfehlung hin, mit einer Altersfreigabe von achtzehn Jahren versehen.“
„Daran hält sich doch sowieso niemand“, wirft Kate ein und verzieht das Gesicht.
Kate sieht die Altersfreigaben der ESRB noch strenger, aber mehr noch kritisiert sie die Eltern, die die Altersfreigaben kategorisch ignorieren.
„Das sehe ich auch so“, stimmt Steve zu. „Ich finde, es sind die Eltern, die mehr in die Verantwortung genommen werden müssen.“
„Diese hingegen sagen, dass es die Schule ist, die mehr tun muss, da die Kinder hier erst mit problematischen Medieninhalten in Berührung kommen“, werfe ich ein. „So oder so, wird es unsere Aufgabe sein, das Spiel zu bewerten.“
„Im Hinblick auf was?“, fragt Max.
„Ich verstehe die Frage nicht.“ verwirrt schüttele ich den Kopf.
„Je nach Auftrag ist unser Job, die Bewertung von Hardwareoptionen, Steuerung, Menüführung, Spielbarkeit… sowas eben“, klärt Max mich auf. „Was genau, wollt ihr da herausfinden?“
„Ich nehme alles, damit sich das Spiel verbieten lässt“, erwidere ich knapp.
Max‘ Augen verengen sich zu schlitzen. „Das ist aber sehr objektiv bewertet, wenn du im Vorfeld schon weißt, welches Ergebnis herauskommen soll.“
Ich ignoriere Max‘ wütenden Blick. „Wir würden das Spiel gerne verbieten, aber uns fehlt im Augenblick noch die Handhabe, da aufgrund der Medienfreiheit bestimmte Auflagen erfüllt sein müssen, damit ein Spiel verboten werden kann.“
„Und du suchst jetzt nach etwas, womit du die Medienfreiheit untergraben kannst?“, harkt Max nach.
Ich seufze. „Wir haben das Spiel längst objektiv bewertet und sind zu der Einschätzung gekommen, dass dieses Spiel eine Gefahr für Kinder und Jugendliche darstellt.“
Max steht auf. „Tja, so kommen wir leider nicht zusammen.“
Ben, Mike und Phil erheben sich ebenfalls und gehen in Richtung Tür.
„Wartet“, rufe ich ihnen nach. „Was soll denn das?“
Max dreht sich an der Tür nochmal um. „Wir bewerten Spiele objektiv und suchen nicht gezielt nach etwas, womit wir sie diskreditieren können.“
„Und wenn das Spiel schlecht ist?“, frage ich.
„Dann bewerten wir es schlecht“, antwortet Max. „Aber wenn es gut ist, bewerten wir es eben gut.“
„Und wenn es jemandem schadet?“, frage ich
„Dann sollte er es nicht spielen“, gibt Max genervt von sich. „Manche Menschen vertragen auch keinen Käse, sollen wir den auch für alle anderen Menschen verbieten?“
Das ist wohl kaum das Gleiche, aber auf diese Diskussion lasse ich mich jetzt nicht ein.
„Dein Vorgesetzter wird nicht erfreut sein, wenn die RAMAC den Zuschlag nicht erhält“, erinnere ich Max.
„Er wird es verstehen, wenn ich ihm erzähle, was für eine Arbeit ihr hier leistet.“ Max zeichnet Anführungsstriche in die Luft und wendet sich wieder ab.
„Max“, sage ich warnend. „Setz dich wieder hin, wir sind hier noch lange nicht fertig.“
Verblüfft sieht Max mich an. Eine Weile steht er an der Tür und überlegt, was er als Nächstes tun soll.
„Kaffee?“, fragt er schließlich.
Cas: „Ich bin doch kein Stalker, eher ein stiller Beobachter“
Schnell wechsele ich von Mindgame Roleplay in das reale Leben, als ich ihn höre. Ich sehe auf den Bildschirm und schüttele den Kopf.
Er versucht sich nicht zu sehr zu freuen, als er wieder eine halbe Stunde zu früh zu dem Termin kommt, aber ich erkenne es sofort. Das schmuddelige Grinsen hatte er immer schon auf dem Gesicht, wenn er die Regeln seinem Willen nach gebeugt hat – das gleiche Grinsen, wie auch schon gestern als er im Konferenzraum von Try Verify saß.
Ich hätte ihn direkt abknallen sollen…
Wieso ich es nicht tue? Nun, Jesse gefallen Dilemmata und mir gefällt es zuzuschauen, wie er seine Dilemmata löst – wie er den Brand löscht, den er selbst gelegt hat, nur um mich von dem abzulenken, was ich ohnehin nicht sehen will.
Aber dich dafür zu benutzen, Süße? Das geht zu weit…
Wie in einem Horrorfilm, wollte ich mir die Augen zuhalten, um nicht sehen zu müssen, wie Nicky bei Max Anblick bricht. Dabei habe ich schon viel schlimmere Dinge gesehen. Aber nichts schockt mich so sehr, wie Nickys Unglück.
Wieder immer glaubt Max mit seinem deckigen Grinsen durchzukommen und leider hat er auch noch recht damit.
Wer Nicky glaubt zu kennen, versucht sie nach ihrem ersten Kaffee zu erwischen, aber niemand kennt diese Frau besser als ich. Nicky ist mit Kaffee ein funken sprühender Regenbogen, das macht sie netter aber auch stärker. Wenn Max vor hat, sie auf den Rücken zu werfen, sollte er es nicht probieren, wenn sie wie Popeye ihren Spinat zu sich genommen hat, sondern erwischt sie in einem Moment der Schwäche. Am schwächsten ist Nicky, wenn sie kurz vor ihrer ersten Dosis Kaffee steht und Max weiß das.
Wichser…
„Du verarschst mich doch“, murrt Nicky, als Max in ihr Büro kommt, noch bevor sie Zeit hatte, ihren Kaffee zu trinken.
Gut so, Süße, wehr dich!
„Manche Dinge ändern sich nie.“ Max setzt sich auf die Schreibtischkante und schaut Nicky eine Weile lang an.
Jap… Das war lange genug…
Ich weiß selber wie schön sie ist, aber wie er sie ansieht… Das gefällt mir gar nicht.
„Nicky, hör zu… Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Was ich getan habe… Das war einfach nicht richtig.“
Ach wirklich? War das nicht richtig? Natürlich war es das nicht! – nicht richtig, aber dringend nötig…
„Wieso hast du es getan?“, fragt Nicky leise und sieht Max nicht an.
Ich weiß genau, wieso er es getan hat, aber das wird er ihr nicht verraten können. Wenn sie wüsste, dass Max keine Wahl hatte, würde das alles verändern. Aber es ist zu spät für eine derartige Veränderung, zumal sich nichts geändert hat. Max hat noch immer keine andere Wahl.
„Ich bin ein Feigling“, lügt er, wobei das stimmt. Er ist ein Feigling, aber das ist nicht der Grund wieso er Nicky verletzt hat.
Sie nickt und macht so deutlich, dass sie ihm seine Lüge einfach abkauft. Sie sieht ihn nicht mal an und erkennt nicht, dass es viel mehr zu wissen gibt.
Max meint, Nicky hätte nicht genug getan. Sie war ihm nicht hartnäckig genug und hat zu wenig um ihn gekämpft. Nicky hat einfach aufgegeben. Sie hat sich nicht mal einen Monat an ihn festgebissen. Sie hat einfach losgelassen und ihn alleine zurückgelassen, obwohl er sie gebraucht hätte – das glaubt Max zumindest. Er fragt sich, wie er das Arschloch sein kann, dass die Freundschaft zerstört hat, wenn er doch alles nur für Nicky getan hat?
Er kennt Nicky nicht, deshalb meint er Bescheid zu wissen, dabei weiß er gar nichts.
Nicky ist eine Kämpferin und hartnäckig wie ein verstopfter Abfluss. Wieso sie nicht um Max gekämpft hat? Weil sie intelligent ist und erkannt hat, dass er ihrer nicht würdig ist.
Er ist niemandem würdig, aber besonders nicht dir, Süße…
„Hast du noch Kontakt zu Jesse“, fragt Nicky und Max zuckt zusammen, was sie aber nicht bemerkt, weil sie ihn immer noch nicht anschaut.
„Er ist mein bester Freund“, lügt er wieder. „Was denkst du wohl?“
Er weiß genau, dass Nicky noch Kontakt zu Jesse hat. Max glaubt, Jesse wäre besessen von ihr und würde nie aufgeben, um Nicky zu kämpfen. Seiner Meinung nach tut Jesse alles was er tut immer nur für sie und Max weiß nicht, wie falsch er damit liegt. Nicht mal ich weiß, wie falsch er damit liegt, weil ich Jesse sein Geheimnis für den Moment noch lasse.
Wieso? Ich ahne welche Dinge, sich hinter dieser Tür verbergen – Dinge, die meine Basis schwächen. Panisch stemme ich mich mit dem Rücken gegen diese Tür, damit sie geschlossen bleibt.
Wieso sich den Problemen stellen, wenn ich sie auch unter den Teppich kehren kann? Ich muss nur zusehen, nicht darüber zu stolpern und mir den Hals zu brechen.
„Wir sind inzwischen befreundet“, erzählt Nicky nach einer Weile, obwohl Max nicht gefragt hat.
Max weiß genau, dass das nicht stimmt. Er kennt Jesse zu lange und zu gut. Auch ihm ist bewusst, dass der kleine Mistkerl mehr versteckt, als er zeigen will. Im Gegensatz zu mir, will Max aber, dass Jesse sich nackig macht. Ich will, dass er angezogen bleibt – dick eingepackt in einen kuscheligen Wintermantel, Schal, Mütze und Handschuhen.
Nicky winkt ab, als Max nicht antwortet. „Besser wir reden nicht darüber. Du hast deutlich klargestellt, dass du an einem freundschaftlichen Austausch kein Interesse hast.“
Daran hat er wirklich nie Interesse gehabt, aber aus einem anderen Grund als Nicky glaubt.
Nicky ist zum Dreh- und Angelpunkt unser aller Leben geworden. Jeder will sie haben und sie für seine Zwecke benutzen. Der Eine nur vorgeschoben, um sein Geheimnis zu verstecken, ein Weiterer, weil ihn das Spielzeug seines Freundes fasziniert und dann wäre da noch ich. Was ich will? Was ich vorhabe?
Ich verrate es, sobald ich es weiß…
„Ja, halten wir es rein beruflich“, stimmt Max schließlich zu und ich kann erfreut dabei zusehen, wie sein kleines Herz gerade gebrochen ist.
Die Zeit heilt alle Wunden? Welcher Idiot hat denn den Spruch erfunden? Das sind eindeutig Fake News.
„Steht unsere Einigung noch?“, wechselt Max das Thema.
Zu meiner Freude hat Nicky zugestimmt, dass das Spiel völlig objektiv in seine Bestandteile zerlegt und bewertet wird. Erst im Anschluss überlegen sie, wie es weitergeht.
Das Spiel darf auf keinen Fall verboten werden.
„Ja, steht noch“, antwortet Nicky.
Obwohl Nicky zugestimmt hat, das Spiel objektiv zu bewerten, hat sie um einen Tag Bedenkzeit gebeten, deshalb kommt Max auch noch vor ihrem ersten Kaffee zur Arbeit. Er könnte es nicht ertragen, wenn ihre Wege sich hier wieder trennen. Nicht, wenn das der einzige Ort ist, an dem er in ihrer Nähe sein darf.
Max nickt und verlässt widerwillig ihr Büro, obwohl er gerade alles andere lieber tun würde.
Ich bleibe noch einen Moment bei Nicky, um sicher zu gehen, dass es ihr gut geht und folge anschließend Max in die Küche.
„Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll“, stöhnt Ben, der auf einem Stuhl am Küchentisch sitzt.
Max klopft ihm auf die Schulter. „Schau einfach woanders hin.“
„Klar, als könnte ich woanders hinsehen“, murrt Ben.
Ich weiß genau, was er meint… Siehst du was du mit den Menschen machst, Süße?
Ich habe auch nie woanders hinsehen können, nicht mehr seit ich sie das erste Mal geschehen habe. Noch immer versuche ich zu verstehen, was sie mit mir gemacht hat.
„Frag sie doch nach einem Date“, schlägt Phil vor.
Bei diesem Vorschlag verspanne ich mich unwillkürlich.
Für wen hält der Typ sich eigentlich?
„Sie ist unsere Chefin“, wirft Mike ein. „Das wäre irgendwie komisch.“
Komisch und auf jeden Fall tödlich…
„Ich muss einfach aufhören World of Warecraft zu suchten“, überlegt Ben.
„Oder du spielst einen anderen Charakter“, lacht Max. „Ich glaube kaum, dass du einen echten Menschen findest, der einem Druiden ähnlich sieht.“
„Sie sieht der Priesterin nicht nur ähnlich“, korrigiert mich Ben, „sie sieht exakt so aus, wie sie.“
Ben holt sein Handy raus. „Hier sieh selbst.“
Ich habe WoW noch nie gespielt. Überhaupt spiele ich nicht gerne Spiele – na ja bis auf Mindgame Roleplay, aber das ist weniger ein Spiel als mehr eine Ersatzbefriedigung. Eine Grenze, die mich davon abhält etwas Unüberlegtes zu tun.
Eine Grenze, die dich schützt, Süße…
Wie diese Diätpillen, die das Hungergefühl unterdrücken, damit die Menschen sich keine ganze Pizza reinpfeifen.
Du bist meine Pizza, Süße. Dick mit Käse belegt, der Fäden zieht, wenn ich ein Stück abbeiße. Selbst im Rand ist Käse…Würzig und heiß…
Mir läuft das Wasser im Mund zusammen und ich tröste mich mit einer Diätpille in Form eines dummen Spiels.
Ich wende meinen Blick kurz vom Bildschirm ab und rufe. „Carl!“
Als er den Kopf durch die Tür streckt, sage ich. „Ich will eine Pizza. Schön dick mit Käse.“
Carl sieht mich an, als wäre ich verrückt und ganz unrecht hat er damit nicht.
„Geh schon“, fordere ich und wende mich wieder dem Bildschirm zu.
Ich sehe wie die Jungs staunend das Foto auf Bens Handy von seiner Spielfigur ansehen. Ich folge ihrem Blick und reiße erschrocken die Augen auf.
Sie sieht wirklich genauso aus wie Nicky. Langes erdbeerblondes Haar, reinweiße Haut mit vielen Sommersprossen auf der kleinen Stupsnase. Große jadegrüne Augen und perfekt kontierte Lippen.
Ich sollte mir das Spiel wohl mal ansehen…
„Scheiße, wie hast du das denn gemacht?“, fragt Max erschrocken, da er sicher weiß, dass Ben Nicky gestern zum ersten Mal gesehen hat und ich weiß es auch. Oder ist er auch ein irrer Stalker?
Auch?
Ich bin doch kein Stalker, eher ein stiller Beobachter.
Das ist das Gleiche!, tadele ich mich selbst.
Gut, dann anders: Ich bin so etwas wie ein Schutzengel, der auf Nicky aufpasst.
Klingt doch gleich viel besser… Zufrieden nicke ich.
„Die Figur ist so voreingestellt gewesen“, berichtet Ben. „Ich hätte sie verändern können, aber das wollte ich nicht, weil sie genauso ist, wie ich mir die perfekte Frau vorgestellt habe.“
Ein Knurren entweicht meinem Mund, wie ein Hund der seinen Knochen um jeden Preis verteidigen wird.
„Du hast deine Traumfrau im Volk der Zwergen gesehen?“, harkt Phil amüsiert nach.
„Nicky ist doch auch nur ein laufender Meter, also passt es doch“, lacht Mike.
Nicky ist klein, recht kurvenreich mit einem üppigen Busen, breiten Hüften und sehr viel Hintern:
Viel zum Lieben und noch mehr zum Anfassen… Liebe?
Kopfschüttelnd wende ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Nickys Arbeitskollegen, bevor meine Gedanken mir die Kehle zuschnüren können.
Keiner dieser Kerle hat Nicky auch nur eine Sekunde lang verdient.
„Sie ist perfekt“, schwärmt Ben.
Ja, das ist sie. Das war sie schon, seit ich sie das erste Mal gesehen habe.
Perfekt?
Dieses Wort beschreibt sie nicht mal annähernd, aber in Ermangelung eines anderen Wortes, nutze ich es vorerst als Lückenfüller. Ein Ersatz für das Original?
Klingt wie der Leitspruch meines verfickten Lebens…