Detailseite zum Buch: Don’t Judge Me By My Cover
Erster Teil: Vince Anderson
Present
Topf findet seinen Deckel: Vince Anderson bald unter der Haube.
Mit einem abschätzigen Gesichtsausdruck hält mir mein bester Freund und Kollege Chris Thompson die Zeitung unter die Nase.
Ich reiße die Augen auf. »Wie konnte das so schnell durchsickern?«
Erst letzte Woche habe ich meiner Freundin einen Antrag gemacht. Weiter haben wir noch nichts geplant.
Chris lacht. »Frag doch deine Zukünftige.«
Ich schüttle den Kopf und senke meinen Blick wieder auf die Zeitung.
Das Topmodel Alica Stevenson gibt bereitwillig Auskunft. Schon in drei Monaten sollen die Hochzeitsglocken läuten. Damit ist der begehrteste Junggeselle der Major League Soccer vom Markt. Der Stürmer der New England Rapids hat noch keine Stellungnahme abgegeben.
»Ich habe noch nicht mal meine Eltern informiert«, brumme ich.
»Das musst du nun auch nicht mehr«, bemerkt Chris und lässt sich neben mich auf die Couch fallen. »In drei Monaten also?«
Davon wusste ich noch nichts, aber das gebe ich jetzt nicht zu. Wie würde ich denn dastehen, wenn ich meine eigene Freundin nicht unter Kontrolle hätte?
»Die Einladungen folgen noch«, lasse ich ihn wissen, ohne genau zu wissen, ob das stimmt.
Scheinbar entscheidet Alice gerade alles im Alleingang. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, stört es mich nicht so sehr, wie es vielleicht sollte. Ich habe viel zu tun und weder Zeit noch Lust, mich mit der Planung der Hochzeit auseinanderzusetzen.
Und wenn ich noch ehrlicher zu mir selbst bin, dann weiß ich nicht einmal, ob ich bereit bin, mich auf diese Weise zu binden.
Mein Management hielt es für eine gute Idee, Alice zu heiraten. Und das ist es auch. Sie ist wunderschön und ein gefragtes Model. Wenn wir uns zusammentun, feuern wir unsere Karrieren zusätzlich an.
Außerdem bin ich schon seit zwei Monaten mit Alice zusammen – meine erste offizielle Beziehung überhaupt – und es läuft wirklich … gut. Alice ist gut für mich – wirklich, es ist gut so …
»Willst du das wirklich?« Chris mustert mich, als könnte er meine Gedanken lesen. Seine Hand streicht ruhelos über die Narbe an seinem rechten Zeigefinger, wie immer, wenn er angespannt ist.
»Ja«, antworte ich, ohne zu zögern.
Es ist bereits beschlossene Sache. Ich werde mir nicht die Blöße geben, einen Widerruf drucken zu lassen. Nicht, wenn mir diese Verbindung in die Karten spielt.
»Ich hoffe, du weißt, was du tust«, sagt Chris und erweckt den Eindruck, als wisse er mehr, als er wissen sollte.
Er hat selbst erst letztes Jahr geheiratet, allerdings nicht aus karrieretechnischen Gründen. Chris hat seine Jugendliebe zu seiner Frau gemacht und vergöttert sie.
Und ich … ich hätte es wirklich schlechter treffen können. Alice ist gut für mich.
»Liebst du sie überhaupt?«, fragt Chris. Er sollte wirklich aufhören, meine Gedanken zu lesen.
»Ich denke schon«, antworte ich, weil es die Wahrheit ist. Noch nie in meinem Leben bin ich verliebt gewesen.
Lüge …
Schnell verdränge ich die Gedanken.
Die Verbindung zu Alice fühlt sich gut an. Das ist doch Liebe, oder nicht?
»Das ist keine Liebe«, grätscht Chris in meine Gedanken. »Ich meine … wenn du es nicht sicher weißt …«
»Ich bin mir sicher«, entgegne ich genervt. Alice ist gut für mich, dessen bin ich mir sicher. Ist das nicht alles, was zählt?
Das Klingeln meines Handys rettet mich vor Chris’ anklagendem Blick. Ich werfe einen Blick darauf und stöhne, als ich sehe, dass meine Mutter anruft.
Sie dürfte zurecht wütend sein, weil sie aus der Zeitung erfahren hat, dass ich heiraten werde. Zwar lernten meine Eltern Alice bereits kennen, aber dass es mir so ernst ist, wissen sie nicht – na ja, sie wussten es nicht, bis jetzt.
Ich nehme das Gespräch entgegen und meine Mutter fällt direkt mit der Tür ins Haus. »Stimmt es?«
»Ja«, antworte ich.
»Und wann wolltest du uns darüber in Kenntnis setzen?«, fragt sie beleidigt.
»Ich … äh … tut mir leid«, stammle ich, nach Worten suchend. »Es ist noch ganz frisch und die Presse hat irgendwie Wind davon bekommen.«
»Irgendwie … klar.« Chris schnaubt neben mir und ich bringe ihn mit einem bösen Blick zum Schweigen.
»Ich freue mich für euch«, beginnt meine Mutter, wirkt aber nicht sicher.
Einen Moment lang herrscht Schweigen, dann sagt sie: »Kommt doch zum Essen vorbei, dann können wir feiern.«
»Sehr gerne«, entgegne ich, aber meine Mutter ist noch nicht fertig. »Dein Vater und ich würden Alice’ Familie gerne kennenlernen.«
»In Ordnung«, stimme ich zu.
Alice hat außer ihren Eltern noch einen Halbbruder, zu dem sie nur wenig Kontakt hat. Soweit ich weiß, lebt er an keinem Ort dauerhaft. Ich kenne ihn nicht und weiß nicht einmal, ob er zur Hochzeit kommen wird.
Nachdem ich einem baldigen Treffen zugestimmt habe, beende ich das Gespräch mit meiner Mutter und ignoriere Chris‘ vorwurfsvollen Blick. Ich weiß gar nicht, was er hat. Immerhin war es sein Verdienst, dass ich Alice überhaupt kennenlernte. Alles begann auf der Fotoausstellung, auf die ich nie gehen wollte … und doch zog mich alles dorthin.
Gerade zur richtigen Zeit platzt Coach Toni Richards in mein Zimmer.
Wir haben Saisontraining und in dieser Zeit befinden wir uns meistens auf dem Trainingsgelände der New England Rapids in Ford Village, Rhode Island.
Coach Richards klopft mir auf die Schulter, weil ich seiner Meinung nach endlich eine gute Entscheidung für mich getroffen habe. Das Management dürfte mit mir zufrieden sein.
Ich wurde vor sieben Jahren in der Major League Soccer aufgenommen und legte bisher nicht gerade eine Glanzleistung hin – privat.
Beruflich bin ich auf dem Höhepunkt meiner Karriere, aber meine privaten Eskapaden waren nicht gerade förderlich. Insofern ist eine Ehe mit Alice Stevenson meine Rettung.
Sie genießt hohes Ansehen – genau wie ihre Familie. Ihre Mutter war früher Topmodel und ist nun eine erfolgreiche Modedesignerin. Alice’ Vater ist niemand Geringeres als Thomas Stevenson, der Inhaber des bekannten Modelabels Stevenson.
Eine Jeans aus seinem Hause kostet mehr als die Schrottkarre, die meine Eltern Auto nennen.
Dass ich nun in ihre Familie einheirate, könnte nicht besser sein. Ich habe wirklich Glück. Wobei es weniger Glück war, als mehr harte Arbeit.
Da ich nicht aus einer wohlhabenden Familie stamme, musste ich mit dem arbeiten, was ich zur Verfügung hatte: sportliches Talent.
Ich bekam bereits mit dreizehn Jahren ein Sportstipendium an der Ford Village Soccer Academy und kämpfte mich nach ganz oben. Heute bin ich einer der am meisten gefragten Fußballspieler der USA und auch der, der am besten bezahlt wird.
»Gut gemacht, Junge«, lobt mich der Coach. »Und nun raus mit euch!«
Chris und ich erheben uns und machen uns auf den Weg in die Kabine, um uns umzuziehen.
Dort angekommen, werde ich von den Mitgliedern meines Teams beglückwünscht und ich fühle mich, als hätte ich gerade im Lotto gewonnen. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass nicht alle enttäuscht von meinen Entscheidungen und mir sind. Vielmehr sind sie stolz auf mich.
Nachdem ich in der Vergangenheit immer öfter angeeckt bin, sind diese Gefühle eine willkommene Abwechslung. Ich hatte zu viele Affären und zu viele falsche Affären, die unter den Teppich gekehrt werden mussten.
Eine Ehe mit dem Topmodel Alice Stevenson ist genau das, was mein Image braucht, um im neuen Glanz zu erstrahlen.
Ja, ich hatte Glück, dass ich meine Freundin überhaupt kennenlernte. Wir waren zufällig auf der gleichen Fotoausstellung, auf die Chris mich mitschleppte. Ich interessiere mich eigentlich nicht für Fotografie und ging aus einem anderen Grund mit. Es war der Name des Fotografen, der mich zwang, mitzugehen …
Ahob …
Als ich nicht fand, wonach ich gesucht hatte, fand ich doch genau das, was ich brauchte: Alice. Und nun werde ich sie in drei Monaten heiraten.
Manchmal frage ich mich, was passiert wäre, wenn ich auf der Ausstellung gefunden hätte, wonach ich suchte. Was wäre dann aus mir geworden?
Vermutlich hätte sich nichts in meinem Leben geändert. Ich wäre immer noch der Mann, für den sich mein Team schämen muss.
Aber so ist es nicht gekommen und ich weiß nicht, ob ich traurig oder froh darüber sein sollte.
Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin, dann weiß ich genau, was ich darüber fühle.
Present
Ich komme durch die Tür und höre meine Freundin lautstark fluchen. Als ich in den Wohnraum gehe, sehe ich, wie Alice wütend auf- und abläuft.
»Du bist ein Arschloch!«, brüllt sie in ihr Handy. »Hörst du mich?«
Ich kann nicht verstehen, mit wem sie spricht, und auch nicht, was der Mensch am anderen Ende sagt. Aber es scheint Alice’ Wut nur weiter anzufachen. Das ist ungewöhnlich für sie. Eigentlich ist sie zuckersüß. Zwar kann sie auch ziemlich gehässig und fies sein, wenn sie ihren Willen nicht bekommt, aber so wütend habe ich sie noch nie erlebt.
»Du wirst das machen!«, schreit sie weiter und hält kurz inne, nur um dann zu nörgeln: »Heißt das, du willst nicht zur Hochzeit kommen oder die Fotos nicht machen?«
Es klingelt bei mir. Sie spricht bestimmt mit dem Fotografen, auf dessen Ausstellung wir uns kennenlernten. Ich dachte, es wäre seine Ausstellung, aber wie sich herausstellte, war es nicht das, was ich erwartet hatte.
»Was meinst du mit beides?«, fragt sie empört. »Ich werde mit Dad über dich reden!«
Fragend sehe ich sie an und mir kommt der Gedanke, dass sie nur mit ihrem Bruder sprechen kann. Über das schwarze Schaf der Familie weiß ich nichts, aber doch so viel, dass die Stevensons nicht gerne über ihn reden – oder mit ihm.
»Das sehen wir noch!«, ruft sie laut und beendet das Gespräch. Sie wirft ihr Handy wütend auf die Couch und stöhnt genervt.
Alice sieht mich an und scheint mich erst jetzt zu bemerken. »Hallo Schatz.« Sie küsst mich kurz auf den Mund und lässt sich auf das Sofa fallen.
»Was ist los?«, frage ich.
»Was?« Fragend mustert sie mich und ich nicke zu ihrem Handy.
Sie winkt ab. »Ach, das war nur mein missratener Halbbruder. Er hat doch wirklich die Nerven, mir zu sagen, dass er nicht zur Hochzeit kommen wird. Und er will auch die Fotos nicht machen!«
Verwirrt schaue ich sie an. »Ich wusste nicht, dass er sie machen soll.«
Es gibt weit bessere Fotografen und wir verdienen genug Geld, um jeden zu engagieren, den wir wollen.
»Was ist mit Ahob?«, frage ich, weil das der Fotograf ist, auf dessen Ausstellung wir uns trafen. Er ist der Beste der Besten, deswegen war ich dort, und auch weil ich dachte … ich dachte … es ist egal, was ich dachte.
»Das ist mein Bruder!«, sagt Alice. »Der beste Fotograf, den es gibt, ist leider mein missratener Bruder.«
»Ahob ist dein Bruder?«, frage ich verwirrt nach.
Alice wirft die Hände in die Luft. »Ja, was denkst du, wieso ich auf der Ausstellung war?!«
»Aber du hast ihn mir nicht vorgestellt«, bemerke ich und wundere mich, dass der schmächtige Mann, den wir an dem Abend sahen, Alice’ Bruder ist. Er wirkte wie ein Kind.
»Das war sein Assistent«, brummt meine Freundin genervt. »Mein Vater hat mich gezwungen, zu seiner Ausstellung zu gehen. Und dann war er nicht mal da!«
Alice erhebt sich vom Sofa und beginnt, in der Wohnung umherzulaufen, während ich mich noch frage, was mir entgangen ist.
Wenn der Mann auf der Ausstellung nicht Ahob war, dann bedeutet das, dass ich doch den richtigen Riecher hatte. Und das wiederum bedeutet, dass …
»Wie heißt dein Bruder?«, frage ich und halte den Atem an.
»Ashton Hobbs«, antwortet Alice, und ich zucke sichtbar zusammen.
Ich spüre, wie sich in mir alles verkrampft und mir übel wird.
»Schatz … was ist denn?«, fragt Alice und hält inne. »Du bist ganz blass.«
Ich antworte ihr nicht. Was soll ich auch sagen? Ich weiß genau, wieso Ash nicht zur Hochzeit kommt und auch wieso er die Fotos nicht machen will.
»Hast du vergessen, mir zu sagen, dass dein Bruder zusammen mit mir zur Schule gegangen ist?«, frage ich säuerlich.
»Was?« Alice sieht mich verwirrt an. »Ich wusste es nicht!«
»Du weißt, auf welcher Schule ich war«, erinnere ich sie wütend.
Alice winkt ab. »Ach, das … Ashton war nur ein Jahr dort. Ich dachte nicht, dass ihr euch kanntet. Mein Bruder ist sehr speziell und hatte keine Freunde auf der Schule.«
Er hatte zwar keine Freunde, dafür umso mehr Feinde – und ich war einer davon. Zu sagen, wir hätten uns gehasst, wäre eine Untertreibung – zu Anfang, für eine ganze halbe Stunde, bis ich ihn das erste Mal sah. Ashton Hobbs war … anders. So verdammt anders, als wir es an der Schule gewohnt waren und erwartet hatten. Ein Jahr reichte ihm, unsere festgefahrenen Strukturen in ihren Grundfesten zu erschüttern und zu seinen Gunsten aufzubrechen.
Es war nur ein Jahr, und es reichte auch mir, um alles, was ich war, was ich bin und je sein würde, infrage zu stellen.
Nachdem er das Leben von allen Schülern in seiner Jahrgangsstufe durcheinandergeworfen hatte, wurde er von der Schule verwiesen und ich sah ihn nie wieder.
Aber ich wollte es – deswegen war ich auf der Ausstellung, weil ich dachte, dass es seine ist. Aber als ich seinen Assistenten dort sah und annahm, er wäre Ahob, war ich enttäuscht. An diesem Abend lernte ich Alice kennen und nahm, was ich bekommen konnte … statt dem, was ich wollte.
Und was wollte ich? Das weiß ich nicht einmal. Ich schätze, ich wollte Ash einfach wiedersehen – ihn ansehen. Ich hoffte, in seinen Augen Antworten auf Fragen zu finden, die ich mir in den vergangenen Jahren wieder und wieder stellte.
Was hast du mit mir gemacht? Und wieso? Geht der Schmerz irgendwann vorbei? Wo genau sitzt er und wann hört er auf?
Es fällt mir schwer, die Verletzungen zu lokalisieren, und dadurch kann ich sie nicht behandeln.
Selbst nach so vielen Jahren spüre ich den Splitter, der in mir steckt. Jedoch weiß ich nicht genau, wo er sitzt, sodass ich ihn nicht entfernen kann. Er piekst und quält mich bei jeder Bewegung. Machtlos ertrage ich den Schmerz und frage mich jeden Tag, wann es aufhört, wehzutun.
»Vince?« Alice mustert mich sorgenvoll.
»Ich will nicht, dass er zur Hochzeit kommt«, stoße ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und halte mich nur mit Mühe aufrecht.
Was Ashton mir angetan hat – was er mir genommen hat … zwar wollte ich Antworten von ihm, aber nun habe ich meine Meinung geändert. Ich will ihm nicht in die Augen sehen und die Blöße ertragen, zuzugeben, dass er mich gebrochen hat – dass ich mit meinen Gedanken noch immer bei ihm bin.
»Er ist mein Bruder«, erinnert mich Alice. »Und er wird auf jeden Fall kommen. Ash ist ein Arschloch und wird immer eins sein. Deswegen führt er sich jetzt so auf. Unser Dad wird ihn anrufen und ihm keine Wahl lassen.«
»Nein!« Ich schüttle den Kopf.
Alice greift nach meinem Arm, aber ich entreiße ihn ihr.
»Was ist denn los?«, fragt sie. »Kennst du ihn etwa?«
Ich antworte nicht, und doch ist es ihr Antwort genug.
»Warte …« Schockiert hält Alice sich die Hand vor den Mund und keucht. »Bist du etwa einer von diesen Jungs?«
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst«, weiche ich der Frage aus. Dabei weiß ich genau, wovon sie spricht.
»Du warst nicht unter den Sammelklägern«, sagt Alice mehr zu sich selbst als zu mir. »Dad hat das nachgeprüft.«
Nein, ich habe Ashton nicht verklagt. Ich wollte es nicht – und konnte es nicht, weil ich noch immer nicht weiß, was er mir angetan hat. Ich erinnere mich vor dieser Nacht an jedes Detail und doch verstehe ich es nicht.
»Hat er … gehörtest du dazu?«, fragt Alice nun direkt an mich gewandt.
Wieder schüttle ich den Kopf, weil ich mir nicht sicher bin, ob ich wirklich dazugehöre. »Es waren Freunde von mir.«
»Das tut mir leid«, entschuldigt sich Alice.
»Er wurde freigesprochen«, erinnere ich sie. »Wofür entschuldigst du dich?«
»Weil ich weiß, dass er schuldig ist«, zischt sie. »Mein Vater hat bestimmt irgendwas gedreht.«
Nicht Thomas Stevenson hat Ashtons Freispruch möglich gemacht, sondern er selbst. Er fotografierte schon früher gerne und machte sich dieses Talent zunutze.
Ich konnte nie glauben, dass sich hinter diesem engelsgleichen Gesicht so etwas Boshaftes verbarg.
Past
»Hast du den Neuen schon gesehen?«, fragt Kyle und setzt sich zu mir auf den Rasen. Seine weißen Stulpen sind von Grasflecken übersät und meine sehen nicht besser aus.
Wir trainieren hart für einen Platz in der Major League Soccer. Die Aufnahme im Sportprogramm der Ford Village Soccer Academy ist nur der erste Schritt. Von allen Schülern, die hier aufgenommen werden, schafft es bestenfalls ein Prozent in die höchste Spielklasse. Das bedeutet, dass von den tausend Konkurrenten in dem Programm nur zehn Sportler die Spitze erreichen. In manchen Jahrgängen schafft es kein einziger.
Und laut Kyle ist zu den eintausend Mitstreitern gerade ein weiterer hinzugekommen.
»Hast du mich gehört?«, fragt Kyle, weil ich nicht geantwortet habe.
»Ich bin nicht taub«, bemerke ich leise, erhebe mich vom Boden und klopfe mir den überschüssigen Dreck von der Hose. »Der Neue interessiert mich nicht.«
Ich habe andere Sorgen …
Es ist schon ewig mein Traum, es in das Team der New England Rapids zu schaffen – meinen Platz in der Major League Soccer einzunehmen.
»Er ist einer von ihnen«, lässt Kyle mich wissen.
Ich stutze und suche in seinem Gesicht nach Anzeichen, dass er einen Witz gemacht hat, kann aber nichts erkennen.
»Fuck!«, schreie ich und balle die Hände zu Fäusten.
Wieso schicken sie diese Kerle eigentlich immer zu uns? Sollten die Eltern nicht selbst in der Lage sein, sie umzuerziehen?
Aber wir haben uns einen Ruf gemacht und kommen unserer Pflicht nach.
Kyle springt auf die Füße und läuft mir nach, als ich wutentbrannt in die Umkleide stürme.
»Hast du es schon gehört?«, fragt Chris, dabei sollte mein Gesichtsausdruck alles sagen.
Ich nicke und reiße mir die Kleidung vom Leib. Die Jungs folgen mir neugierig in die Dusche, begierig darauf, zu erfahren, welchen Plan ich mir diesmal ausdenken werde.
»Jahrgangsstufe?«, frage ich und wasche mich schnell.
»Unsere«, antwortet Kyle.
Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Die anderen waren sehr viel jünger und wir entsprechend sanfter. Aber ein Kerl in unserem Alter ermöglicht es uns, die Samthandschuhe auszuziehen.
»Wen haben wir?«, frage ich.
»Sein Name ist Ashton Hobbs, er ist siebzehn Jahre alt und bezieht gerade sein Zimmer«, erklärt Kyle, dessen Vater der Schulleiter ist und der ihm solche Spezialfälle zuschiebt. Aber da Kyle ein Stümper ist, übernehme ich die Planung.
»Bei wem?«, will ich wissen.
Richie hebt die Hand und ich nicke ihm zu. »Gut.«
Er ist perfekt für diese Aufgabe geeignet. Ashton Hobbs wird nicht wissen, wie ihm geschieht.
»Ich habe gehofft …«, beginnt Richie zögerlich. »Vielleicht könnte jemand anders ...«
Verwirrt mustere ich ihn, als ich aus der Dusche steige. »Was ist los?«
Ich gehe zurück in die Umkleide und ziehe mich an. Die Jungs folgen mir.
»Er ist … speziell«, hilft Kyle mir auf die Sprünge.
»Das heißt?«, hake ich nach.
Kyle wirft Richie einen Blick zu und der schluckt laut. »Er …«
»Ja?« Gespannt warte ich darauf, dass er weiterspricht.
»Richie steht auf ihn.« Kyle lacht und ich reiße die Augen auf.
»Das stimmt nicht!«, empört sich Richie.
»Er sieht aus wie ein wunderschöner Engel – deine Worte«, bemerkt Kyle amüsiert.
»Das … äh …« Richie schüttelt den Kopf. »Wunderschön habe ich nie gesagt, aber er sieht wirklich aus wie ein Engel … ich fühle mich nicht wohl damit …«
»Du willst also aussteigen«, errate ich, und er nickt.
»Daraus wird nichts«, sage ich. Das weiß er auch genau. Er kann nicht mehr zurück. »Wenn er ein Engel ist, wird es umso leichter.«
»Das habe ich nie gesagt«, entgegnet Richie. »Ich sagte, er sieht so aus … alles andere …« Wieder schüttelt er den Kopf.
»Außen ein Engel und innen der Teufel?«, frage ich und nicke interessiert. Das wird ja immer besser.
Ich schnappe mir meine Sachen und mache mich auf den Weg ins Schulgebäude und weiter durch den hinteren Teil des Internats, in dem sich die Schlafzimmer befinden.
Ich trete um die Ecke, die Jungs im Schlepptau, die mir neugierig gefolgt sind, und bleibe erstarrt stehen, als ich ihn sehe. Ein Blick reicht, um zu erkennen, was Richie gemeint hat.
Ashton Hobbs ist ein bildschöner Mensch. Er hat goldblonde Locken, die im Sonnenlicht funkeln, makellose Haut, rosarote, volle Lippen und trägt ein strahlendes Lächeln zur Schau. Er unterhält sich mit einem anderen Schüler und wirkt dabei so einnehmend, als hätte er nie etwas anderes getan, als Menschen in seinen Bann zu ziehen. Er wirkt hell, freundlich, warm und anschmiegsam. Das Einzige an ihm, das nicht hell ist, sind seine Augen – dunkelbraun, wie ich auf die Entfernung bereits erkennen kann, so eindrucksvoll ist die Farbe.
Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben einen schöneren Menschen gesehen – ganz objektiv betrachtet natürlich.
»Geht es dir nicht gut?«, fragt Kyle, weil ich immer noch wie ein Trottel auf den Engel vor mir starre.
Ich räuspere mich und will meine Füße zwingen, sich in Bewegung zu setzen. Plötzlich richtet sich sein Blick auf mich und ich zucke sichtbar zusammen.
Peinlich berührt fahre ich mir durch das Haar, während Kyle mich verwirrt mustert.
Als ich meinen Blick wieder auf Ashton Hobbs richte, ist er bereits nähergetreten. Er kommt vor mir zum Stehen und schaut mich von unten an, weil er kleiner ist als ich. »Ein Empfangskomitee für mich? Das wäre doch nicht nötig gewesen …« Ein Grinsen schmückt seine Lippen, was im krassen Kontrast zu dem boshaften Funkeln in seinen braunen Augen steht. Seine dunkle Stimme hat einen drohenden Unterton angenommen, der mir nicht entgeht und deutlich macht, dass das engelsgleiche Aussehen nur Fassade ist. Er weiß, was hier läuft, und macht sich auf einen Krieg gefasst.
Dummer Junge …
»Willkommen an der FVSA«, begrüße ich ihn, aber meine Augen sagen deutlich: Es wird nicht leicht für dich.
»Vielen Dank«, entgegnet er und schenkt mir ein strahlendes Zahnpasta-Lächeln, das mir direkt in den Magen schießt, als hätte er mich geboxt. Hinter dem falschen Lächeln erkenne ich, was er wirklich sagen will: Du weißt nicht, mit wem du dich anlegst …