Leseprobe zum Buch: Bestseller (Arbeitstitel)

Prolog

Ich hasse es – ich hasse dich. Ja genau, dich meine ich.

Wie du an der Wand lehnst, wie du aussiehst. Deine Nase, die sich kräuselt, wenn dir langweilig ist und wie du an deiner Unterlippe knabberst, wenn du nachdenkst.

Ich hasse dich – ich hasse alles an dir.

Wenn ich könnte, wie ich wollte, würde ich meine Waffe ziehen, sie dir in den Mund schieben und deine Gehirnmasse an der Wand hinter dir verteilen. Ob das Rot schön aussehen würde, wenn es an der grau geklinkerten Wand herabläuft? Was meinst du?

Wenn ich könnte, wie ich wollte? Wenn ich wollte, wie ich könnte? Ich könnte, aber ich will nicht. Nicht mal hier sein, will ich. Ich will dich nicht ansehen.

Lügen… Nichts als Lügen.

Wieso ich mich selbst belüge?

Es gibt da diese Bronzeskulptur. Sie ist wunderschön, sie ist perfekt, makellos, atemberaubend. Sie ist härter als Eisen, korrosionsbeständiger und rostet nicht.

Nichts wollte ich je mehr haben, als diese Bronze. Ich wollte, dass sie mir gehört – Mir allein. Eines Tages stelle ich plötzlich fest, dass es der Bronze in meinem Umfeld nicht gut geht. Sie weist eine Art Korrosion auf, die als Bronzeseuche bekannt ist. Jeder Versuch der Oberflächenbehandlung scheiterte und ich kam zu dem Schluss, dass ich sie nicht haben kann, wenn ich will, dass es ihr gut geht.

Statt dass ich nun in der Ecke liege und heule, weil die Bronze nie mir gehören wird, rede ich mir ein, dass ich sie hasse. Das ich sie nicht ansehen will, dass ich nicht hier sein will.

Genau genommen, ist es nicht mal gelogen, dass ich dich hasse. Ich hasse dich, weil du mich hasst. Ich hasse dich, weil du nicht weißt, wie sehr ich leide. Ich hasse dich, weil du nicht weißt, wie sehr du mir den Kopf verdreht hast und weil du nicht weißt, was wirklich in mir vorgeht.

Mein Blick gleitet erneut über dich und ich werde direkt hart.

Ich hasse dich…

Ich steige aus dem Auto und gehe auf dich zu. Du stößt dich von der Wand ab, als du mich bemerkst. Ich erkennen an deinem Gesichtsausdruck, dass du mich genauso sehr hasst, wie ich mir vormache, dich zu hassen.

Ja, du hast recht: Wir sollten nicht hier sein. Wenn du nicht meine Bronze sein kannst, sollte ich dich einfach gehen lassen, aber hatte ich erwähnt, dass du mich magnetisch anziehst, obwohl eine Bronze eigentlich nicht magnetisch ist? Du bist es und wirst es immer sein.

Ich kann dich nicht gehen lassen, selbst wenn ich wollte nicht. Ich will dich nicht gehen lassen, selbst wenn ich müsste nicht. Ich muss, aber ich will und kann nicht. Ist das verwirrend? Da siehst du mal, was du mit mir machst.

Nicky

Kaffee. Ich halte den Kopf gesenkt, als ich mich an meinen Kollegen vorbeischlängele und grummele ein ‚Guten Morgen‘, während ich nur ein Ziel vor Augen habe: Die Küche mit meinem Lieblingsgerät – die Kaffeemaschine.

„Ich liebe dich“, seufze ich, als meine Lieblingskollegin Kate mich schon mit einer Tasse Kaffee erwartet.

Kate lacht. „Meinst du mich oder den Kaffee?“

„Euch beide“, antworte ich und atme den beruhigenden Duft meines Lieblingsgetränks ein.

Noch bevor ich einen Schluck nehmen kann, stürmt mein Kollege Steve in die Küche. „Nicky, da bist du ja.“

Kate schüttelt entschieden den Kopf. „Sie hatte noch keinen Kaffee. Gib ihr fünf Minuten.“

„Die haben wir leider nicht.“ Steve wirft mir einen entschuldigenden Blick zu. „Sie sind da.“

Überrascht schaue ich auf die Küchenuhr. „Es ist halb acht Uhr morgens. Es ist doch morgens, oder?“

Steve und Kate schauen mich an, als wäre ich nicht ganz dicht, aber ich winke ab. „War nur ein Scherz.“

Ich nehme meinen Kaffee und gehe murrend in mein Büro um meine Unterlagen zu holen.

Ich bin eher kein Morgenmensch und schlafe morgens gerne länger, was aber dazu führt, dass ich keine Zeit mehr habe mir zu Hause einen Kaffee zu kochen und ich bin zu geizig um mir unterwegs einen Kaffee zu holen.

Schlecht gelaunt schleppe ich mich zur Arbeit und sobald ich meinen ersten Kaffee getrunken habe, bin ich eine frohe Frohnatur. Aber vor dem ersten Kaffee? Meine Kollegen wissen, dass sie wichtige Angelegenheiten lieber nach dem ersten Kaffee besprechen.

Deshalb habe ich den Termin heute erst auf acht Uhr gelegt. Wer kommt zu einem Termin um acht Uhr eine halbe Stunde zu früh? Richtig Nerds. Ich weiß, ich sollte sie nicht so nennen, aber ich hatte noch keinen Kaffee und da fällt es mir schwer die korrekte Bezeichnung zu finden. Wie lautet die korrekte Bezeichnung für Menschen, die sich mit Online-Rollenspielen auskennen? Wie wäre es mit RAM? Nennt man so nicht einen Teil vom Computer?

Zumindest arbeiten die RAMs für die Firma RAMAC und testen Spiele. Ich war dagegen mit einer anderen Firma ins Bett zu steigen, wurde aber vom Vorstand überstimmt.

Offenbar reicht es nicht, dass unsere Medienpädagogen ein Spiel bewerten. Nein, wir brauchen unbedingt eine Gruppe von Nerds, die uns auf die Finger gucken. Dabei bin ich Medienpsychologin und Geschäftsführerin von ‚Try Verify‘ und brauche keinen Babysitter.

Wir untersuchen die Wirkung von Medien unterschiedlichster Art auf Kinder und Jugendliche. Unsere Empfehlungen werden als Grundlage für eine Altersbeschränkung bei Filmen und Spielen genommen. Aber es geht diesmal nicht um irgendein Spiel. Als Medienpsychologin weiß ich um die Besonderheit dieses Spiels.

Genau deshalb kann ich den Zusammenschluss von RAMAC und Try Verify für dieses Projekt nicht verurteilen. Es ist gut, wenn wir das Spiel nicht nur wissenschaftlich, sondern auch technisch verstehen und bewerten.

Ich gehe in den Konferenzraum, in dem die RAMs schon auf mich warten und nippe einmal schnell an meinem Kaffee, den ich in der Hand halte.

Als ich meinen Blick hebe und in die Runde der wartenden Männer sehe, zucke ich zusammen und lasse meine Kaffeetasse vor Schreck fallen.

„Nicky, du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen“, bemerkt Steve das Offensichtliche.

Nein, kein Geist. Nur meinen ehemaligen besten Freund Anthony Hudson, von dem ich seit einem Jahr kein Wort gehört habe, weil er meine Nachrichten ghostet. Er sitzt am Tisch im Konferenzraum und grinst mich breit an.

Ich wende meinen Blick von Tony ab und beginne die Scherben meiner heruntergefallenen Kaffeetasse aufzusammeln, als Tony kommt um mir zu helfen.

„Kate, könntest du das bitte übernehmen“, frage ich meine Lieblingskollegin. „Ich muss kurz…“

Ich beende den Satz nicht, erhebe mich und verlasse fluchtartig den Konferenzraum.

Ich gehe in meinem Büro auf und ab und versuche wieder zu Atem zu kommen, als die Tür aufgeht und Tony hereinkommt. Natürlich ohne anzuklopfen. Tony hat es noch nie geschafft anzuklopfen.

„Nicky“, beginnt er, aber ich stoppe ihn direkt. „Ich arbeite seit fünf Jahren bei Try Verify. Du warst dabei, als ich damals als Geschäftsführerin eingestellt wurde. Was machst du hier, wo du doch weißt, dass ich hier arbeite?“

„Ja, ich wusste es“, gibt Tony zu. „Aber Nicky, du musst das verstehen. Das ist eine große Chance für mich. Ich bin seit einem Jahr bei RAMAC und dieses Projekt könnte mir eine Führungsposition einbringen. Man hat mir die Leitung übertragen, damit ich zeigen kann, was in mir steckt.“

„Ich habe die Leitung“, korrigiere ich Tony. „Und ich entscheide auch, mit welcher Firma wir ins Bett steigen. Glaubst du echt, ich würde dich wählen?“

Ich setze mich demonstrativ in meinen Chefsessel und lasse Tony nicht aus den Augen.

„Ich dachte nicht, dass du so rachsüchtig bist.“ Tony schüttelt den Kopf.

„Und ich dachte nicht, dass du ein feiges Arschloch bist, der eine enge Freundschaft einfach mit ghosting beendet“, schieße ich zurück.

Tony hebt resigniert die Hände. „Ich dachte, du würdest es schaffen, dich wie eine Erwachsene zu benehmen, aber bitte, wie du willst.“

Verhalte ich mich kindisch? Objektiv bewertet schon irgendwie. Ich war immer stolz darauf mein Privatleben von meinem beruflichen Umfeld zu trennen, wieso höre ich jetzt damit auf? Tony ist immer gut in seinem Job gewesen und aus unternehmerischer Sicht, wäre es nicht sehr klug ihn abzulehnen, nur weil er privat ein Arschloch ist. Ich habe jeden Tag mit Arschlöchern zu tun. Leider sind es gerade die Arschlöcher, die erfolgreich sind.

Tony wendet sich zum Gehen, aber ich halte ihn zurück. „Ich sehe mir die Zusammenarbeit objektiv an…“

„Danke.“ Tony nickt mir zu, bevor er mein Büro verlässt.

Ich lehne mich in meinem Sessel zurück und atme tief durch. Nie hätte ich gedacht, dass ich ihn je wiedersehen würde. Nicht nachdem ich über einen Monat hinweg vergeblich versucht habe, Tony zu erreichen. Keinen meiner Anrufe oder Nachrichten hat er beantwortet. Nur der ‚zuletzt Online‘ Hinweis, hat mir mitgeteilt, dass er nicht tot ist, sondern einfach keinen Kontakt mehr möchte – von einem Tag auf den anderen. An einem Tag waren wir noch beste Freunde, die gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen sind und nur einen Tag später, waren wir plötzlich Fremde.

Ich habe vergeblich versucht, das Gespräch zu suchen, um zu verstehen, was passiert ist, was ich falsch gemacht haben könnte, dass ich nicht mal einen richtigen Abschied bekomme. Aber Tony hat jedes Gespräch abgeblockt – persönlich, telefonisch, oder schriftlich.

Nicky

„Gut, fangen wir an.“ Ich stürme in den Konferenzraum und setze mich an den großen Tisch, direkt gegenüber von Tony.

Kate schiebt mir eine Tasse Kaffee über den Tisch zu. Dankbar lächele ich, obwohl ich schon jetzt weiß, dass dieser Kaffee nicht dazu beitragen wird, meine Laune zu heben.

Ich sehe in die Runde. „Für alle die mich nicht kennen, ich bin Nichole Watts, Geschäftsführerin von Try Verify. Als Medienpsychologin werde ich auch dieses Projekt leiten.“

Ich deute auf meine Kollegen. „Das sind unsere Medienpädagogen: Kate Willis und Steve Baker.“

Ich sehe Tony abwartend an und er nickt. „Tony. Ich bin Medieninformatiker.“ Er hebt die Hand und winkt kurz, bevor er auf seine Kollegen deutet. „Ben ist Gamedesigner. Mike ist Computerspielwissenschaftler und Phil ist Spielejournalist.“

Ben, Mike und Phil heben eine Hand und winken, als ihre Namen genannt werden.

„Das sind Spitznamen“, erklärt Tony. „Wir halten uns ungern mit längeren Namen auf, Nichole.“

„Wir nennen sie alle Nicky“, kichert Kate. „Aber Kate und Steve sind doch kurz genug oder?“

Tony lässt eine Reihe strahlend weißer Zähne aufblitzen, als er Kate anlächelt. Sie wird rot und ich rolle mit den Augen.

„Wie ihr ja wisst, geht es um das kontroverse Spiel ‚Mindgame Roleplay‘, erkläre ich und sehe in meine Unterlagen. „Release war im Mai. In den zwei Monaten hat sich das Spiel wie ein Lauffeuer verbreitet.“

Ich mache eine kurze Pause, bevor ich weiter fortfahre. „Die Entertainment Software Rating Board, besser bekannt als ESRB, hat das Spiel mit einer Altersfreigabe von achtzehn Jahren versehen.“

„Daran hält sich doch sowieso niemand“, wirft Kate ein und verzieht das Gesicht.

Kate sieht die Altersfreigaben der ESRB noch strenger, aber mehr noch kritisiert sie die Eltern, die die Altersfreigaben kategorisch ignorieren.

„Das sehe ich auch so“, stimmt Steve zu. „Ich finde, es sind die Eltern, die mehr in die Verantwortung genommen werden müssen.“

„Diese hingegen sagen, dass es die Schule ist, die mehr tun muss, da die Kinder hier erst mit problematischen Medieninhalten in Berührung kommen“, werfe ich ein. „So oder so, wird es unsere Aufgabe sein, das Spiel auseinander zu nehmen und zu bewerten.“

„Im Hinblick auf was?“, fragt Tony.

„Ich verstehe die Frage nicht.“ verwirrt schüttele ich den Kopf.

„Je nach Auftrag ist unser Job, die Bewertung von Hardwareoptionen, Steuerung, Menüführung, Spielbarkeit… sowas eben“, klärt Tony mich auf. „Was genau, wollt ihr da herausfinden?“

„Ich nehme alles, damit sich das Spiel verbieten lässt“, erwidere ich knapp.

Tonys Augen verengen sich zu schlitzen. „Das ist aber sehr objektiv bewertet, wenn du im Vorfeld schon weißt, welches Ergebnis herauskommen soll.“

„Die ESRB hat das Spiel basierend auf unserer ersten Einschätzung vorerst auf achtzehn freigegeben“, informiere ich Tony. „Wir würden das Spiel gerne verbieten, aber uns fehlt im Augenblick noch die Handhabe, da aufgrund der Medienfreiheit bestimmte Auflagen erfüllt sein müssen, damit ein Spiel verboten werden kann.“

„Und du suchst jetzt nach etwas, womit du die Medienfreiheit untergraben kannst?“, harkt Tony nach.

Ich seufze. „Wir haben das Spiel längst objektiv bewertet und sind zu der Einschätzung gekommen, dass dieses Spiel eine Gefahr für Kinder und Jugendliche darstellt.“

Tony steht auf. „Tja, so kommen wir leider nicht zusammen.“

Ben, Mike und Phil erheben sich ebenfalls und gehen in Richtung Tür.

„Wartet“, rufe ich ihnen nach. „Was soll denn das?“

Tony dreht sich an der Tür nochmal um. „Wir bewerten Spiele objektiv und suchen nicht gezielt nach etwas, womit wir sie diskreditieren können.“

„Und wenn das Spiel schlecht ist?“, frage ich.

„Dann bewerten wir es schlecht“, antwortet Tony. „Aber wenn es gut ist, bewerten wir es eben gut.“

„Und wenn es jemandem schadet?“, frage ich

„Dann sollte er es nicht spielen“, gibt Tony genervt von sich. „Manche Menschen vertragen auch keinen Käse, sollen wir den auch für alle anderen Menschen verbieten?“

Das ist wohl kaum das Gleiche, aber auf diese Diskussion lasse ich mich jetzt nicht ein.

„Dein Vorgesetzter wird nicht erfreut sein, wenn die RAMAC den Zuschlag nicht erhält“, erinnere ich Tony.

„Er wird es verstehen, wenn ich ihm erzähle, was für eine ‚Arbeit‘ ihr hier leistet.“ Tony zeichnet Anführungszeichen in die Luft und wendet sich wieder ab.

„Tony“, sage ich warnend. „Setz dich wieder hin, wir sind hier noch lange nicht fertig.“

Verblüfft sieht Tony mich an. Eine Weile steht er an der Tür und überlegt, was er als Nächstes tun soll.

„Kaffee?“, fragt er schließlich.

Tony

Ich versuche mich nicht zu sehr zu freuen, als ich wieder eine halbe Stunde zu früh zu unserem Termin komme.

Wer Nicky glaubt zu kennen, versucht sie nach ihrem ersten Kaffee zu erwischen, aber niemand kennt diese Frau besser als ich. Nicky ist mit Kaffee ein funken sprühender Regenbogen, das macht sie netter aber auch stärker. Wenn ich vor habe, sie auf den Rücken zu werfen, probiere ich es doch nicht, wenn sie wie Popeye ihren Spinat zu sich genommen hat, sondern erwische sie in einem Moment der Schwäche. Am schwächsten ist Nicky, wenn sie kurz vor ihrer ersten Dosis Kaffee steht.

„Du verarschst mich doch“, murrt Nicky, als ich in ihr Büro komme, noch bevor sie Zeit hatte, ihren Kaffee zu trinken.

„Manche Dinge ändern sich nie.“ Ich setze mich auf die Schreibtischkante und sehe Nicky eine Weile lang an. „Nicky, hör zu… Ich möchte mich bei dir entschuldigen. Was ich getan habe… Das war einfach nicht richtig.“

„Wieso hast du es getan?“, fragt Nicky leise und sieht mich nicht an.

Ich weiß genau, wieso ich es getan habe, aber das werde ich Nicky nicht verraten können. Wenn sie wüsste, dass ich keine Wahl hatte, würde das alles verändern. Aber es ist zu spät für eine derartige Veränderung, zumal sich nichts geändert hat. Ich habe noch immer keine andere Wahl.

„Ich bin ein Feigling“, lüge ich.

Nicky nickt und macht so deutlich, dass sie mir meine Lüge einfach abkauft. Sie sieht mich nicht mal an und erkennt nicht, dass es viel mehr zu wissen gibt.

Manchmal wünschte ich mir, sie wäre hartnäckiger, hätte mehr gekämpft und mich gezwungen mich ihr zu offenbaren. Aber Nicky hat einfach aufgegeben. Sie hat sich nicht mal einen Monat an mir festgebissen. Sie hat einfach losgelassen und mich alleine zurückgelassen, obwohl ich sie gebraucht hätte. Wie kann es sein, dass sie das nicht gesehen hat und immer noch nicht sieht? Wie kann ich das Arschloch sein, dass unsere Freundschaft zerstört hat, wenn ich doch alles nur für uns beide getan habe? Sie kennt mich doch, wie kann sie das nicht wissen?

„Hast du noch Kontakt zu Jesse“, fragt Nicky und ich zucke zusammen, was sie aber nicht bemerkt, weil sie mich immer noch nicht anschaut.

„Er ist mein bester Freund“, lüge ich wieder. „Was denkst du wohl?“

Ich muss nicht erst fragen, ob Nicky noch Kontakt zu Jesse hat. Er ist besessen von ihr und wird nie aufgeben, um Nicky zu kämpfen.

„Wir sind inzwischen befreundet“, erzählt Nicky, obwohl ich nicht gefragt habe.

Jesse will alles sein, aber nicht Nickys Kumpel, das weiß ich, obwohl er längst nicht mehr mein Kumpel ist.

Nicky winkt ab, als ich nicht antworte. „Besser wir reden nicht darüber. Du hast deutlich klar gestellt, dass du an einem freundschaftlichen Austausch kein Interesse hast.“

Daran habe ich wirklich nie Interesse gehabt, aber aus einem anderen Grund als Nicky glaubt.

„Ja, halten wir es rein beruflich“, stimme ich zu und es zerreißt mir noch genauso das Herz, wie es schon vor einem Jahr war.

Die Zeit heilt alle Wunden? Welcher Idiot hat denn den Spruch erfunden? Das sind eindeutig Fake News.

„Steht unsere Einigung noch?“, frage ich.

Nicky hat zugestimmt, dass wir das Spiel völlig objektiv in seine Bestandteile zerlegen und bewerten. Erst im Anschluss überlegen wir, wie es weitergeht. Trotzdem hat Nicky um einen Tag Bedenkzeit gebeten, deshalb komme ich noch vor ihrem ersten Kaffee zur Arbeit. Ich könnte es nicht ertragen, wenn unsere Wege sich hier wieder trennen. Nicht, wenn das der einzige Ort ist, an dem ich in ihrer Nahe sein darf.

„Ja, steht noch“, antwortet Nicky.

Ich nicke ihr zu und verlasse widerwillig ihr Büro, obwohl ich gerade alles andere lieber tun würde.

Gelangweilt werfe ich einen Blick in den Konferenzraum, in dem nur Steve und Kate sitzen. Da ich gerade keine Lust auf eine Unterhaltung mit den beiden habe, suche ich meine Leute und finde sie im Pausenraum.

„Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll“, stöhnt Ben, als ich zur Tür reinkomme.

Ich klopfe ihm auf die Schulter. „Schau einfach woanders hin.“

„Klar, als könnte ich woanders hinsehen“, murrt Ben.

Ich weiß genau, was er meint. Ich habe das auch nie gekonnt.

„Frag sie doch nach einem Date“, schlägt Phil vor.

Bei diesem Vorschlag verspanne ich mich unwillkürlich.

„Sie ist unsere Chefin“, wirft Mike ein. „Das wäre irgendwie komisch.“

„Ich muss einfach aufhören World of Warecraft zu suchten“, überlegt Ben.

„Oder du spielst einen anderen Charakter“, lache ich. „Ich glaube kaum, dass du einen echten Menschen findest, der einem Druiden ähnlich sieht.“

„Sie sieht der Priesterin nicht nur ähnlich“, korrigiert mich Ben, „sie sieht exakt so aus, wie sie.“

Ben holt sein Handy raus. „Hier sieh selbst.“

Ich habe WoW zuletzt in meiner Jugend gespielt und habe aufgehört, als ich angefangen habe Sex zu haben, aber das erzähle ich meinen Kollegen lieber nicht. Sie sehen tatsächlich nicht so aus, als hätten sie oft Sex. Allerdings komme ich gerade selbst auch nicht oft zum Zug. Ich habe andere Dinge im Kopf als Frauen… Na ja, eine Frau habe ich schon ständig im Kopf.  

Ich schaue mir das Foto der WoW-Priesterin auf Bens Handy an und reiße erschrocken die Augen auf.

Sie sieht wirklich genauso aus wie Nicky. Langes erdbeerblondes Haar, reinweiße Haut mit vielen Sommersprossen auf der kleinen Stupsnase. Große jadegrüne Manga-Augen und perfekt kontierte Lippen.

„Scheiße, wie hast du das denn gemacht?“, frage ich erschrocken, da ich sicher weiß, dass Ben Nicky gestern zum ersten Mal gesehen hat.

„Die Figur ist so voreingestellt gewesen“, berichtet Ben. „Ich hätte sie verändern können, aber das wollte ich nicht, weil sie genauso ist, wie ich mir die perfekte Frau vorgestellt habe.“

„Du hast deine Traumfrau im Volk der Zwergen gesehen?“, harkt Phil amüsiert nach.

„Nicky ist doch auch nur ein laufender Meter, also passt es doch“, lacht Mike.

Nicky ist klein, recht kurvenreich mit einem üppigen Busen, breiten Hüften und sehr viel Hintern.

Jesse hat immer gesagt, ‚viel zum anfassen und noch mehr zum lieben‘. Jesse hat Nicky keine Sekunde lang verdient. Leider hat er das stets anders gesehen und sieht es immer noch anders. Dabei hat er leider Nicky übersehen. Er hat nie ihren wahren Wert erkannt.

„Sie ist perfekt“, schwärmt Ben.

Ja, das ist sie wirklich. Das war sie schon immer.

Nicky

Seufzend lege ich meinen Kopf auf die Tischplatte und genieße die Kälte des Glases auf meiner erhitzten Stirn. „Wieso?“

Ich kann immer noch nicht glauben, dass die RAMAC den Zuschlag bekommen hat. Eigentlich kann ich es sehr wohl glauben, immerhin war ich es, die sich für diese Firma entschieden hat. Wieso habe ich diese Firma gewählt? Obwohl ich diese Entscheidung objektiv treffen wollte, habe ich sie sehr subjektiv getroffen. Subjektiver geht es gar nicht: Mir gefällt es Tony wieder in meiner Nähe zu haben. Es ist fast wie früher, auch wenn wir keine Freunde sind. Ich fühle mich ihm Nahe und genieße das Zusammensein mit ihm.

„Das ist doch kein Weltuntergang“, tröstet mich Kate. „Sie leisten wirklich gute Arbeit und sind nett.“

Dagegen kann ich nichts sagen. Die RAMs sind gut in dem was sie tun. Sie sind fleißig, ehrlich und zuverlässig.

„Und gruselig“, füge ich hinzu und löse meinen Kopf von der Tischplatte. „Dieser Ben sieht mich immer so an.“

Kate nickt. „Ja, wie ein Verhungernder ein Schnitzel anschaut.“

„Vielleicht sieht er zum ersten Mal eine Frau abseits seines Bildschirms und ist überrascht wie schön weibliche Wesen in echt sind“, überlegt Steve amüsiert. 

Ich verziehe das Gesicht. „Danke für das Kompliment, aber mein Exfreund hat mich manchmal Pippi genannt. Ihr wisst schon… nach Pippi Langstrumpf.“

Kate grinst. „Stimmt, du bist genauso schön, wie sie. Leider ohne Affen.“

„Die sitzen im Konferenzraum.“ Ich werfe den Kopf in den Nacken und lache über meinen eigenen Witz.  

Als die Pause vorbei ist, gehen wir wieder in den Konferenzraum.

„Kann ich dir helfen?“, frage ich, als Ben mich zum wiederholten Male anstarrt.

Tony stößt ihm mit dem Ellenbogen in die Seite und Ben wendet seinen Blick schnell ab.

„Wie weit sind wir?“, frage ich und setze mich an den Konferenztisch.

„Kampagne“, antwortet Ben, ohne mich anzusehen.

„Das heißt was genau?“, harke ich nach.

„Jedes Spiel hat eine Story, die im Fokus steht “, erklärt Tony. „Ben spielt diese Hauptquest.“

„Er spielt?“, frage ich und verziehe das Gesicht.

„Wie testet ihr denn die Spiele?“ Phil sieht mich fragend an.

„Wir sehen uns Videos an, in denen das Spiel dargestellt wird“, antworte ich. „Es würde uns den Raum nehmen, die Wirkung herauszuarbeiten, wenn wir uns zusätzlich auf das Spielen konzentrieren müssen.“

„Verstehe.“ Phil nickt. „Uns geht es primär um die Spielbarkeit. Wir werden das Spiel daher spielen müssen.“

„Wir?“, harke ich nach.

„Ja, wir spielen das Spiel alle und gleichen unsere Meinung dann miteinander ab“, erklärt Tony. „Ich bin mit der Kampagne allerdings immer schon früher durch, weil meine Kollegen sich eher durchsterben, als zu spielen.“ Toni grinst seine Kollegen frech an.

Maik hebt kurz den Blick von seinem Laptop „Klappe, du Lutscher.“

Ben lacht und Phil zeigt Tony den ausgestreckten Mittelfinger.

„Wie weit seid ihr… ähm beim Video gucken?“, fragt Phil, er kann den amüsierten Unterton in seiner Stimme kaum verbergen.

„Wir haben verschiedenste Videos rauf und runter analysiert und kommen immer wieder zum selben Ergebnis“, berichte ich.

Mir ist durchaus bewusst, dass die RAMs sich einen anderen Ausgang gewünscht haben. Aber ich sehe nicht, wie wir erlauben können, dass ein derartiges Spiel in die Hände von Kindern und Jugendliche gelangt.

Tony seufzt. „Ich bin immer noch der Ansicht, dass ein pauschales Verbot nicht der richtige Weg ist.“

„Sagt dir der Werther-Effekt etwas?“, frage ich.

„Werther? Gab es da nicht dieses Goethe-Buch?“ Tony kratzt sich verwirrt am Kopf.

„Ja, genau“, stimme ich zu. „Im Kern geht es darum, dass Suizide die medial aufgebauscht werden, zu Nachahmungstaten anregen.“

„Das ist aber sehr vereinfacht dargestellt“, mischt Mike sich ein. „Welche Wirkung die Medien haben, ist letztlich von den Vorerfahrungen der Rezipienten abhängig.“

Auf meinen verblüfften Gesichtsausdruck hin, erklärt Mike. „Ich habe Computerspielwissenschaft studiert. Natürlich hatten wir auch Medienwirkungsforschung.“

Ich nicke. „Dann dürfte dir ja klar sein, wieso dieses Spiel verboten gehört.“

„Eigentlich nicht“, widerspricht Mike. „Medien können je nach Gestaltung eine suizidpräventive Wirkung haben. Die sehe ich in dem Spiel.“

Ich rolle mit den Augen. „Ja, mir ist der Papageno-Effekt geläufig, aber anders als du, sehe ich diese nicht in dem Spiel.“

„Weil du es nicht gespielt hast.“ Mike schüttelt den Kopf. „Das ist ein Open-World-Game. Die Möglichkeiten sind schier Grenzenlos. Auf Videos erkennst du nur, was andere daraus gemacht haben.

Es ist wie bei Minecraft. Nur weil dort jemand eine Militärbasis gebaut hat, heißt das nicht, dass du nicht auch ‚unsere kleine Farm‘ spielen kannst.“

Ich bin nicht oft sprachlos, aber diesmal weiß ich wirklich nicht, was ich sagen soll.

Tony zeigt Mike den Daumen und grinst. „Dem ist wohl nichts weiter hinzuzufügen.“

Ich stehe auf und stütze die Hände auf den Tisch. „Gut, ich werde es spielen.“

Tony sieht mich überrascht an und ich zucke mit den Schultern. „Ich kann auch zugeben, wenn ich im unrecht bin.“

„Seit wann?“, fragt Tony und lacht.

Ich zeige ihm den Mittelfinger, was mir einige Lacher von seinen Kollegen einbringt.

Ich werfe einen Blick auf die Uhr. „Wir machen Schluss für heute. Wer hat Lust auf einen Drink?“

Sofort schießen alle Hände in die Höhe – alle bis auf die von Tony.

„Keinen Drink?“, harke ich nach.

„Ich kann nicht“, antwortet er knapp, schnappt sich seine Sachen und verschwindet, ohne sich nochmal umzusehen.

Ich versuche mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen und zucke wieder mit den Schultern. „Bleibt mehr für uns.“

© Lisa Lee

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